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Die „Distel“ piekst im „Hotel Heimat“ munter ihre Gäste

MAINZ – Als Disteln bezeichnet der Volksmund stachelige oder dornige Pflanzen – dem Freund des gepflegten Kabaretts fällt hier sofort auch das 1953 gegründete, gleichnamige Ensemble aus dem Osten Berlins ein, das derzeit von Frank Lüdecke geleitet wird. Aus seiner Feder stammt auch das aktuelle Programm „Hotel Heimat“ – Stacheln und Dornen inklusive.

30 Klischees, Typen und Charaktere geben sich hier die Klinke des Hotelzimmers in die Hand: Ossis und Wessis, Politiker und Bürger, Aus- und Inländer, Alte und Junge, Priester und Profane, Hausmänner und Karrierefrauen. In 15 knackigen Nummern, die gekonnt von Matthias Lauschus und Bernd Wefelmeyer musikalisch umrahmt und untermalt werden, spielen Dagmar Jaeger, Stefan Martin Müller und Michael Nitzel verschiedene Szene aus der bundesdeutschen Befindlichkeit.

Deutlich wird hier die westliche Überheblichkeit karikiert, die noch immer fleißig die Mauer in den Köpfen hochzieht. Mit der Summe der bisher entrichteten Solidaritätszuschläge hätte man lieber mal das Baltikum zurückkaufen sollen: „Ich meine, wir sind doch selber Schuld. Wir haben Hitler unterstützt. Und dafür müssen wir jetzt Brandenburg wieder aufbauen“, resümiert die arrogante Berlin-Touristin und merkt an, dass unter Schröder noch mehr Menschen in den Westen geflüchtet seien als unter Ulbricht und Honecker zusammen.

Genauso gut gelingen die bissigen Sketche zur Globalisierung, in denen Personalchefs für Entlassungsgespräche geschult werden: „Gute Personalpolitik heißt, die Mitarbeiter so schnell über den Tisch zu ziehen, dass sie die dabei entstehende Reibungshitze als Nestwärme empfinden.“ In der Nummer „Trash of civilisation“ kommt es zum Crash zwischen Morgen- und Abendland und der Hotelmanager merkt zur muslimischen Ehe seines Liftboys Hassan Ülüglü trocken an, dass dieser die von Europa für die Türkei favorisierte „privilegierte Partnerschaft“ doch bereits mit seiner Frau Aische praktiziere.

In der Rede des Abgeordneten Horst Pansenmacher wird das Elend der Volksvertreter gezeigt: Statt vor dem EU-Parlament darf er nur anlässlich einer Supermarkteröffnung reden. Gut abgefüllt lamentiert er über sein Schattendasein als Politiker der hinteren Ränge, da, wo das Fernsehbild unscharf wird. Überhaupt macht ihm das Regieren keinen Spaß mehr in einem Land, wo die Kuscheldeckel von Eisbär Knut das Volk mehr bewege als das Abschmelzen seines natürlichen Lebensraums oder das Problem mit der Kernenergie erst angegangen werde, wenn die radioaktive Strahlung den Fernsehempfang störe.

Scharf wie Rasiermesser sind solche Pointen. Vom Ensemble der „Distel“ werden sie jedoch augenzwinkernd präsentiert, so dass das Gemüt des Publikums vorher entsprechend eingeseift wird.

Sämtliche Energie wird von Dagmar Jaeger, Stefan Martin Müller und Michael Nitzel ins überzeugende Spiel gesteckt. Das spärlich gestaltete Bühnenbild ist orange gehalten: Die Farbe gilt einerseits als Warnung, steht in der Psychologie jedoch auch für Stimmungsaufhellung, Kontaktfreudigkeit und die Bereitschaft, Neues zu entdecken. All das erfüllt sich im „Hotel Heimat“, denn mit den humorigen Stacheln und Dornen der „Distel“ wird der Blick des Publikums auf manches Problem durchaus neu justiert.

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