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Musikalische Reise nach Argentinien

GEISENHEIM (11. August 2013). Zuweilen hilft es ja, wenn einem der Lehrer (oder wie in diesem Fall die Lehrerin) kräftig den Kopf wäscht: „Du Idiot! Das ist der echte Piazzolla“, schalt Nadja Boulanger den jungen Astor Piazzolla (1921-1992) nach einem Vorspiel, als dieser bei ihr vorgesprochen und Unterricht erhalten hatte.

Er schrieb wohl Kammermusik und Sinfonien – Boulanger aber war unzufrieden und vermisste eben diesen „echten Piazzolla“. Der jedoch hatte sich geschämt seiner Lehrerein zu erzählen, dass er zuvor als Tangomusiker in Cabarets und einschlägigen Etablissements seiner Heimatstadt Buenos Aires aufgespielt hatte.

Heute wird man die Musik Piazzollas weniger in Freudenhäusern hören – sie hat längst ihren Weg auf die Konzertpodien dieser Welt gefunden. Auch das Rheingau Musik Festival hat den Komponisten als Publikumsmagneten entdeckt: Zu Beginn des musikalischen Sommers stellte man Piazzollas „Vier Jahreszeiten“ in einem Open air-Konzert mit dem Kammerorchester Berlin und Katrin Scholz denen Antonio Vivaldis gegenüber – und punktgenau nach zwei Dritteln des Festivalprogramms gab es in Schloss Johannisberg sozusagen eine Reise zu gewinnen: nach Buenos Aires, mitten hinein ins pulsierende Leben der südamerikanischen Metropole.

„Reiseleiter“ waren an diesem Abend Isabelle van Keulen (Violine), Rüdiger Ludwig (Kontrabass), Christian Geber (Bandoneon) und Ulrike Payer (Klavier). Das Quartett ergänzt sich perfekt und jeder ist hier der „primus inter pares“, glänzt sowohl mit solistischen Partien als auch im klanglichen Kollektiv.

Der Geigenton van Keulens ist blutvoll und intensiv, wenn sie mit kraftvollen Sforzati spitze Ausrufezeichen setzt. Mit beringtem Finger lässt sie die Schnecke der Violine zum Percussion-Instrument mutieren und auch Ludwig geht dem Klangkörper seines Kontrabasses nicht nur mit dem Bogen zuleibe. Darunter stampft das Klavier markante Akkorde und das Bandoneon wirbelt darüber hinweg: Der „Tango nuevo“ hat Einzug im Fürst-von-Metternich-Saal gehalten.

Nach „Michelangelo 70“ kommt es im „Sommer“ (Verano porteño) aus den „Vier Jahreszeiten von Buenos Aires“ zum zarten Gedankenaustausch zwischen Violine und Bandoneon, der jäh in einen geladenen Disput umschlägt: Leicht tremuliert das Spiel Gerbers und dramatisch crescendiert van Keulen in diesem Seiltanz aus Dissonanz und Harmonie, vermeintlichem Chaos und gesetzter Ordnung. Jenes Spannungsfeld kann man auch im „Winter“ (Invernio porteño) spüren. Ist man endlich zur Ruhe gekommen?

Den „Tango nuevo“ Piazzollas erfüllt stets ein immanenter Bewegungsdrang und im hochvirtuosen Spiel der vier Künstler bricht der sich immer wieder seine Bahn. Aber es geht auch anders: In „Tristeza por un Doble“ eröffnet ein melancholisch singendes Solo des Bandoneon, an das sich die Violine mit zarten Sekundwechseln schmiegt. Und im von Piazzolla auf den Tod seines Vaters komponierten „Adiós Nonino“ zeigt sich der „Tango nuevo“ von seiner kantabel-melodiösen Seite – wunderbare Vielfalt!

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