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Kundiger Führer durch Bachs Klangarchitektur

KIEDRICH (12. Juli 2015). Wenn das aktuelle Programm des Rheingau Musik Festivals herauskommt, fragt man sich gespannt: Stehen wieder Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“ an und wen konnte die Dramaturgie diesmal dafür gewinnen? BWV 988 ist fast schon ein „Work in residence“, so regelmäßig stand es seit 2006 im Konzertkalender. Jetzt gab der junge Pianist Kit Armstrong sein Solo-Debüt, nachdem er bereits 2011 mit Alfred Brendel im Rheingau aufgetreten war.

Das Laiendormitorium von Kloster Eberbach ist bis auf den letzten Platz besetzt. Die „Goldberg-Variationen“ sind ein Publikumsmagnet, doch der 23-jährige Künstler sicherlich auch. Behände erklimmt er das Podium und setzt sich an den Flügel. Was hat man selbst mit 23 Jahren gemacht? Versucht, einigermaßen kluge Gedanken in irgendeine Seminararbeit zu zwängen? Armstrong hat bereits fertig studiert: neben Musik auch Naturwissenschaften, in Paris erwarb er seinen Master in Mathematik.

Doch man erlebt an diesem Abend kein „Wunderkind“, keinen Tastenlöwen, der sich auf Kosten der Komposition produziert und die Variationen nutzt, um seine Kunst plakativ vorzustellen. Der einzige, der hier und heute im Mittelpunkt steht, ist Bach. Armstrong spielt traumversunken, wird eins mit der Musik. Als Mathematiker ergründet er die Statik der Musik und erweist sich in ihrem Verlauf als neugieriger Führer durch die Klangarchitektur.

Nehme man nur die 25. Variation, das berühmte Adagio mit seiner kühnen Harmonik. Armstrong nutzt es als berauschenden Ruhepunkt. Und obwohl er sich in diesem Labyrinth der Modulation bestens auskennt, entdeckt er es gemeinsam mit dem Zuhörer scheinbar tastend neu. Schon die Aria nimmt einen gefangen: Samtweich lässt Armstrong sie erklingen. Und er setzt eben keinen Akzent mit der ersten Variation: Statt schon hier mit den Muskeln zu spielen, steigt er tänzerisch ein. Jede thematische Verwandlung hat hier ihren eigenen Gout und eröffnet automatisch einen tiefen Einblick in Bachs Klangkosmos: fließend, akzentuiert, sphärisch, swingend.

Wenn der Pianist eine virtuose „Hoppla, hier komm‘ ich!“-Attitüde an den Tag legt, geschieht das stets mit gekonnt ironischer Distanz. Mal dehnt Armstrong, mal zieht er zusammen und spielt unglaublich dicht. Doch der Klang hat stets genug Luft zum Atmen. Das Gebot der Stunde lautet Transparenz in jedem einzelnen Stück – aber auch im Ganzen: Obwohl die Übergänge zuweilen fließend sind, weiß der Zuhörer doch stets, wo er sich befindet.

Beeindruckend ist auch Armstrongs Pedalarbeit: Der pure Hall kommt als Effekt nicht zum Einsatz, doch der rechte Fuß des Pianisten tippt derart rhythmisch, dass der Dämpfer die Saiten permanent touchiert, fast schon streichelt. All das macht diesen Abend zu einem grandiosen Erlebnis. Bei über 150 Konzerten in der Saison von einem Höhepunkt zu sprechen, fällt schwer. Hier aber ist es angebracht.

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