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Anfangs ohne Kontur

WIESBADEN (8. Juli 2015). Der erste Teil des Konzerts lässt einen etwas ratlos in die Pause gehen. Nicht nur, dass dem Programm, das der Thomanerchor Leipzig als Gast des Rheingau Musik Festivals in der Wiesbadener Lutherkirche vorstellt, generell ein roter Faden fehlt: Es scheint keine dauerhafte Verbindung zwischen dem Klangkörper und seinem Dirigenten Gotthold Schwarz zu geben.

Er hat aber auch keinen einfachen Stand: Als Interims-Chorleiter steht er dem Ensemble mit seiner über 800-jährigen Geschichte nur für ein paar Monate vor und schließt die Lücke zwischen dem jüngst aus gesundheitlichen Gründen aus dem Amt geschiedenen Christoph Biller und dem neuen Thomaskantor, der das Amt jedoch erst 2016 antreten wird (und der auch erst noch benannt werden muss).

Keine Frage, auch wenn Schwarz dem Chor als langjähriger Stimmbildner vertraut ist und Biller bereits des Öfteren bei Konzerten vertrat – es ist auch für die jungen Thomaner nicht einfach, sich auf diese Zwischenlösung, dieses Provisorium einzulassen. Und so finden beide anfangs nicht so recht zueinander, die Motivation ist eher hemdsärmlig als konzentriert. Verwalten statt gestalten, scheint eher die Devise zu sein.

Da ist die sechsstimmige Motette „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ von Heinrich Schütz, die sich wie Kaugummi zieht. Erst zur Doxologie nimmt das Stück an Fahrt auf, doch da ist es bereits zu Ende. Dabei ist so viel Potential vorhanden: Abgesehen von den zuweilen etwas dünn klingenden Knabenstimmen ist der Chor stimmlich recht gut aufgestellt. Die Textverständlichkeit ist ebenfalls gegeben und nur selten fallen intonatorische Unwuchten ins Gewicht. Man müsste eigentlich mehr aus dieser Musik herausholen können, beschränkt sich jedoch auf lineare Wiedergabe und filetierte Binnenstruktur.

Das ist schade – bei Schütz und Bachs Motette „Komm, Jesu, komm“ sowieso, aber vor allem auch bei den so gut wie nie aufgeführten Choralsätzen eines Johann Adam Hiller, Johann Joachim Quantz oder Carl Philipp Emanuel Bach auf Texte des barocken Dichters Johann Fürchtegott Gellert, dessen 300. Geburtstag man in diesem Jahr gedenkt. Gerade hier könnten die Knaben Farbe auftragen, doch man lässt die Chancen ungenutzt – sowohl Schwarz als auch Chorist Paul Bernewitz, der Hillers Motette „Beständige Erinnerung“ dirigieren darf.

Ratlosigkeit also – und dann die große Überraschung! In der Pause sinnierte man noch, ob der Knoten wohl im zweiten Teil platzen kann – und das tut er jetzt: Den Anfang machen die Thomaner mit „Vinea mea electa“ aus den „Quarte motets pour un temps de pénitence“ von Francis Poulenc – diesmal steht dem Chor mit Friedrich Praetorius ein weiterer Sänger aus den eigenen Reihen vor. Deutlich und klug gibt er die Linie vor, der Klangkörper folgt geschlossen. Man staunt!

Nach Poulencs „Tenebrae factae sunt“ brechen die dynamischen und agogischen Dämme und die bislang eher trockene Stimmung wird wohltuend überflutet. Bei Johannes Brahms‘ „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“ sind Schwarz und die Thomaner ganz beieinander. Im letzten Teil der fünfstimmigen Motette wird „der freudige Geist“ besungen – und er ist förmlich greifbar. Zuvor wollten oder konnten die Sänger ihrem Dirigenten nicht folgen, jetzt tun sie es mit Verve.

Das Finale gehört dem, der für die Thomaner einst seine bis heute unerreichten Motetten schrieb: Bach. Auch „Singet dem Herrn“ gerät inspiriert, transparent, sauber und so überzeugend, dass es tatsächlich gelingt, die im Auftakt angeklungenen Mängel zu übertönen. Dieser Poulenc, dieser Brahms und dieser Bach klingen versöhnlich nach. So darf es bis zum 31. März 2016 gerne weitergehen.

Zwischen den Chorstücken gestaltete Jörg Endebrock als Kantor der Lutherkirche den instrumentellen Part: Bachs Toccata für Orgel F-Dur (aus BWV 540) und die Phantasie für Orgel op. 39b von Sigfrid Karg-Ehlert.

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