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Klangliche Pilgerreise

KIEDRICH (13. August 2021). Der Jakobsweg verläuft von Sainz-Jean-Pied-de-Port durch Nordspanien bis nach Santiago de Compostela. Unzählige Menschen sind ihn bereits gepilgert. Auch von Deutschland aus kann man ihn gehen, doch führt der Zuweg nicht durch den Rheingau. Dort hingegen gibt es den Klostersteig: Er beginnt in Kloster Eberbach und reicht in sechs Etappen rund 30 Kilometer lang über Kloster Marienthal und die Abtei St. Hildegard bis Kloster Marienhausen.

Das Pilgern war auch Thema des ersten Auftritts des Tenebrae Choirs unter Nigel Short in Kloster Eberbach. Auf dem Programm stand „Path of Miracles“ von Joby Talbot (*1971): Der vertonte Text besteht aus Bibelzitaten sowie mittelalterlichen Schriften und bildet Psyche und Physis der Pilgernden sowie Landschafts- und Seelenbilder ab. In vier Sätzen wird von Heiligen, Wundern und Überlieferungen erzählt, die sich mit dem Jakobsweg verbinden.

Talbot schuf das Werk 2005 als Auftragskomposition des Tenebrae Choirs. Und selbst, wenn sich die Besetzung seither verändert haben dürfte, scheint diese Musik dem Ensemble buchstäblich auf den Leib geschrieben. Allein schon der Beginn: In tiefen Tönen beginnt die Musik in „Roncesvalles“ und schraubt sich crescendierend sirenengleich langsam in die Höhe, bis sie sich schließlich in einem babylonischen Stimmengewirr entlädt.

Talbots Musik erinnert stellenweise an den Minimalismus eines Arvo Pärt. Nigel Short führt seinen Tenebrae Choir dabei stets sicher durch harmonische Untiefen und über dissonante Riffe. Der Hörer darf dabei in diesen Klangwellen versinken und tief in vokale Schwerelosigkeit hinabtauchen. Die Stimmen des Chors beindrucken dabei nicht nur durch ihre Kraft, sondern vor allem durch die Sicherheit, mit der sie auf diesem „Path of Miracles“ wandeln: Sie kennen ihn, jede Biegung, Steigung oder Neigung, so dass sich der Hörer getrost in die Hände dieser „Wegweiser“ auf dem klanglichen Jakobsweg geben kann. Der Komponist selbst ging ihn, um sich inspirieren zu lassen. Im Hören spürt man in vier Sätzen den Mühen des Pilgers nach, erfährt von Mythen oder ist tonal flirrendem Sonnenlicht ausgesetzt, um schließlich im finalen „Santiago“ alle Erschöpfung zu vergessen und energiegeladen das Ziel zu erreichen.

Mag einen die Musik beim (ersten) Hören vielleicht über Gebühr fordern: Das Konzert des Tenebrae Choirs dokumentiert, welch unglaublich große Kunst allein die menschliche Stimme im Verbund mit anderen zu schaffen vermag. Talbot lotet hier alle Möglichkeiten aus und bildet mit Clusterklängen, Reibungen und Glissandi den Reichtum der Klangfarbenspektrums ab. Passion und Präzision, diese beiden Eigenschaften trägt das Ensemble im Untertitel – hier erlebt man sie in derartiger Vollkommenheit, dass einem das Herz aufgeht.

Joby Talbots „Path of Miracles“ ist inzwischen zweifach auf CD erschienen: 2006 bei Signum mit dem Tenebrae Choir und 2015 bei harmonia mundi mit dem Ensemble Conspirare.

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