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Wenige Kerzen statt LED-Glanz

FRANKFURT (17. Dezember 2022). Sage und schreibe zwölf Stunden sind die Jungs des Windsbacher Knabenchors auf den Beinen, als der erste Akkord von Bachs Weihnachtsoratorium in der Alten Oper erklingt: Eigentlich sollten sie bereits am Tag zuvor von ihrer Spanientournee zurückgekehrt sein, doch die Lufthansa hatte den Flug storniert. Und die Windsbacher? Singen, als wäre nichts gewesen. Unglaublich. Auch die Solisten haben einen Tag am Flughafen hinter sich: mit mehrfach stornierten Flügen und abendlicher Rückkehr ins Hotel. Auch sie stehen an diesem Tag im Morgengrauen auf und heben ab, ohne gefrühstückt zu haben. Es sind eben Profis: die Großen wie die Klein(st)en.

Das Publikum erlebt an diesem Abend ein Weihnachtoratorium (Kantaten 1 bis 3 und 6), das sich so gänzlich von der gängigen Aufführungspraxis abhebt. Am Pult steht Ludwig Böhme, seit September neuer Künstlerischer Leiter der Windsbacher. Und der setzt einen anrührenden Kontrapunkt zur lärmenden Vorweihnachtszeit. Klar dürfen die Jungs in Bachs Chören auch jubeln. Doch alles klingt wohlig zurückhaltend: Im Gegensatz zum zigtausendfachen LED-Glanz in der Frankfurter City gleicht dieses Oratorium eher dem Licht weniger, dafür aber umso wärmer leuchtender Kerzen.

Für ihre Konzerte arbeiten die Windsbacher in diesem Jahr erstmals mit dem Orquestra Barocca de Sevilla zusammen. In Spanien zählt es zu den besten Interpreten Alter Musik: Wunderbare Naturtrompeten, anmutige Holzbläser, ein wendiger Streicherapparat – also alles so, wie es (mittlerweile) sein soll. Dazu Isabel Schicketanz (Sopran), Henriette Reinhold (Alt), Patrick Grahl (Tenor) und Thomas Laske (Bass): Jede Arie wird kultiviert artikuliert und anmutig musiziert. Auch hier herrscht Zurückhaltung: Keine Stimme drängt sich vor das Orchester, sondern reiht sich ein.

Grahl gestaltet seine Rolle als Erzähler objektiv: der Evangelist in der Rolle des Reporters also. Etwas mehr Empathie ist in den Arien zu spüren, eine stimmige Gestaltung. Laske nimmt seiner Arie „Großer Herr, starker König“ alles Muskelspiel und lässt den Regenten geradezu tanzen, während Reinhold in „Schlafe, mein Liebster“ eine weitere Kerze anzuzünden scheint, so warm flutet ihr Ton den Raum. Schicketanz‘ Sopran schmiegt sich im Duett mit Laske charmant an und begeistert auch solistisch mit delikatem Gesang.

Die Windsbacher machen einfach das, wofür sie berühmt sind: lassen selbst den schlichtesten Choral diamantengleich funkeln, begeistern in den Chören mit Präsenz und Klarheit, beweisen also einmal mehr, dass sie selbst nach zwei Jahren Pandemie ihren Platz an der Spitze der deutschen Knabenchorlandschaft behaupten. Und was da für Stimmen mitsingen: Die Rolle des Engels übernimmt Knabensopran Julian Fecker – ein in seiner Natürlichkeit ergreifender Moment.

Ludwig Böhme kennt das Weihnachtsoratorium, hat es, wie er im Gespräch verriet, bereits unzählige Male gehört und (nicht nur in seiner Thomanerzeit) gesungen. Aber dirigiert eben noch nicht. Mit den Windsbachern gibt er nun sein Debüt und fasziniert mit klugen binnendynamischen Einfällen. Der erste Choral („Wie soll ich Dich empfangen“) wird vom Chor so transparent gesungen, als lege sich der Klang wie Tau aufs Orchester. Beim letzten („Ich steh an Deiner Krippen hier“), gerne auch a cappella intoniert, illuminiert das Orchester im Pianissimo die Chorstimmen sozusagen von unten. Das ganze Konzert atmet einen kammermusikalischen Gout. Gewiss könnte man es auch mit minimaler Besetzung musizieren. Oder eben das große Tutti von der Idee begeistern, die Geschichte mal anders, leiser zu erzählen. Böhme ist das zweifelsohne gelungen.

Die Frankfurter Bachkonzerte haben BWV 248 also mal nicht als triumphale Festmusik präsentiert und Ludwig Böhme sowie alle Mitwirkenden gezeigt, dass man selbst dieses so oft schon gehörte und musizierte Werk noch immer in einem neuen Licht sehen und hören kann. Ein wunderbares Geschenk schon eine Woche vor Heiligabend.

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