» Thema

Doppelherz für die Alte Musik

Volles Haus beim jüngsten Bachfest in Leipzig – und das mit einem reinen Kantatenkonzert: Im ersten besuchten 1.500 Menschen die Nikolaikirche, für das zweite mussten noch 300 Stühle zusätzlich aufgestellt werden. Was sicherlich vor allem an zwei der Interpreten lag: Ton Koopman dirigierte, die Basspartien sang Klaus Mertens. Der wurde am 25. März 75, Koopman feiert am 2. Oktober seinen 80. Geburtstag. Beide verbindet seit 45 Jahren eine künstlerische und persönliche Freundschaft, die nicht nur die Entwicklung der Alte-Musik-Szene prägte, sondern im klassischen Musikgeschäft tatsächlich einzigartig sein dürfte.

1979 hört Mertens, noch im Hauptberuf Lehrer, von einem niederländischen Musiker, der die Barockszene aufmische. Er nimmt Kontakt auf und besucht Koopman, der damals im Erbdrostenhof in Münster für ein Konzert probt. Der Bassbariton singt Bacharien vor, der Cembalist meint: „Das ist schön, was sie da machen. Sie hören von mir.“ Auf keinen Fall konnte sich Mertens damals vorstellen, was aus dieser Initiativbewerbung werden sollte: Gemeinsam haben die beiden zwischen 1994 und 2004 das komplette Kantatenwerk von Johann Sebastian Bach aufgenommen, in den folgenden sechs Jahren das von Dieterich Buxtehude. Mertens ist damit der erste und bislang einzige Sänger weltweit, der diese Mammutaufgabe gestemmt hat. Die Diskografien beider Künstler sprengen mittlerweile ohnehin jedes Regal.

Ihre Zusammenarbeit begann übrigens mit Bachs Kaffeekantate. Beim Pausen-Heißgetränk an einer Utrechter Gracht kam man bald zum Du. Spricht man mit dem einen über den jeweils anderen, merkt man schnell, wie tief diese Freundschaft ist. So lobt Koopman an Mertens nicht nur seine auch noch mit 75 Jahren unfassbar schöne und kultivierte Stimme – für ihn „Phänomen und Weltwunder“: „Er ist ein lieber und kluger Mann, der genau weiß, was er tut, wenn er singt. Klaus setzt sich mit dem Text auseinander, so dass bei ihm zur Emotion die unbedingte Kenntnis der Musik kommt.“ Und er sei immer top vorbereitet: „Am besten von allen.“ Witzig, dass Mertens in der ersten Zusammenarbeit überhaupt ausgerechnet die Rolle des „Schlendrian“ sang. Beide ergänzen sich: „Klaus redet gerne und ich höre gerne zu“, sagt der leise Niederländer lächelnd: „Auch in der Musik hat er unglaublich viel zu erzählen – in jedem Rezitativ und jeder Arie merkt man das.“

Tatsächlich hört man Mertens gerne zu – selbst, wenn er nicht singt: Seine Ausdrucksweise ist distinguiert, die Stimme dezent sonor – stets hat man den Eindruck, man rede mit einem Mitglied des britischen Hochadels, Und wenn er von seinem Freund Ton spricht, schwingt etwas Liebevolles mit. Da sind die Erinnerungen an Besuche im Hause Koopman, wo man vor den Aufnahmen die Partien noch einmal durchging, an Kater Bach, der am Frühstückstisch vom Dirigenten im Bademantel gekrault wurde. Mertens gehört eigentlich schon zur Familie und erzählt: „Ton ist ein begnadeter Continuospieler, ein großartiger und vielseitiger Musiker. Wenn er dirigiert, sitzen alle auf der Stuhlkante. Dabei herrscht niemals eine autoritär-angespannte Stimmung wie bei anderen: Er stellt sich als ‚fliegender Holländer‘ vor, krempelt die Ärmel hoch und legt los. Dabei spricht er jeden mit Namen an.“

Kein Wunder, dass Koopman die Musikerinnen und Musiker des von ihm gegründeten Amsterdam Baroque Orchestra und Choir „seine Kinder“ nennt. „Musik ist Harmonie, in der man sich geborgen und getröstet fühlt“, beschreibt der die Freundschaft mit Mertens als Triebfeder des gemeinsamen Tuns. Über Details müssen beide nicht mehr reden, ihre Musik entsteht dank blindem Vertrauen und hundertprozentiger Verlässlichkeit – wie 2023 im rheinhessischen Saulheim, als die beiden im Festival „furioso!barock“ mit dem Programm „Ein Abend bei Familie Bach“ ein geradezu intimes Konzert gaben, das auch viel von ihrer privaten Beziehung zeigte.

Teile davon nahmen sie 2023 in einer kleinen, zugigen Kirche an der zeeländischen Küste auf: Bachs wundervolle Schemelli-Lieder und Orgelwerke. Die (von Mertens durchaus als „unser Vermächtnis“ bezeichnete) CD ist bei Challenge Classics erschienen. Bei dieser Firma gründete Koopman mit „Antoine Marchand“ (sein Name auf Französisch) ein eigenes CD-Label, als der amerikanische Warner-Konzern ihm (wie anderen Barockgrößen auch) mitten während der Gesamteinspielung der Bach-Kantaten die Gelder strich und das Projekt zu scheitern drohte. Der Dirigent nahm auf sein Haus eine hohe Hypothek auf und rettete das Vorhaben. „Er ist eben ein großer Visionär“, sagt Mertens.

Dieser Tage konzertieren beide im französischen Perigord, wo Koopman vor sechs Jahren sein Festival Itinéraire Baroque gegründet hat. Der 80-Jährige fühlt sich nach eigenen Angaben wie 50, auch wenn er einräumt, dass er nach neun Stunden am Pult hin und wieder seine Knochen spüre. Als Grund für ihre nicht nur musikalische Fitness geben beide an, immer Freude an ihrer Arbeit verspürt zu haben. Und natürlich schmieden sie noch Pläne: Im Dezember geht es für vier Aufführungen von Händels Messiah mit New York Philharmonic in die Staaten. Dann möchte Koopman mit Mertens unbedingt noch die Kantaten des mit 32 Jahren jung verstorbenen Buxtehude-Schülers Nicholas Bruhns aufnehmen. „Klavierspieler und Dirigenten arbeiten bekanntlich am längsten“, verweist er lachend auf den Pianisten Arthur Rubinstein: „Der hat sein letztes Konzert mit 89 gegeben. Ich habe also noch ein paar Jahre.“ Und mit Blick auf den Jüngeren fügt er hinzu: „Klaus auch.“ Zu ihren runden Geburtstagen sei beiden daher Gesundheit und ein langes Leben gewünscht.

zurück