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„Zeitgenössische Musik hat es schon immer gegeben"

BADNSTER – Sigune von Osten ist mit „ART POINT – Trombacher Hof“ eine der Initiatoren des Spetkrums Villa Musica – Neue Musik für Rheinland-Pfalz und eröffnet mit „MenschMaschine-KlangMaschine“ im Mai die Saison 2008/2009. Im Gespräch mit dem Schreibwolff-Magazin beantwortet Sie grundlegende Fragen zur zeitgenössischen Musik, erzählt von Versäumnissen in der Musikerziehung und regt an, hier Vorurteile durch Neugier zu ersetzen und sich auf neue Klänge einzulassen.

Schreibwolff: Frau von Osten, was ist für Sie Musik?

Sigune von Osten: Der Begriff Musik hat sich für mich immer mehr erweitert im Hinblick auf Klang. Dies nicht zuletzt durch meine frühe Begegnung mit dem amerikanischen Komponisten John Cage. Für Cage war alles Musik, war alles Klang, was ihn umgab – beispielsweise auch Verkehrsgeräusche. Mein Ohr kann sich durchaus auch erfreuen an den Klängen eines tropfenden Wasserhahns, eines rauschenden Baches oder des Windes, der durch die Baumwipfel streicht. Auch das sind für mich Klänge, erfreuende Klänge, besser berührende Klänge, im weiteren Sinne „Musik“. Die ständige Berieselung von Musik hingegen, wie man sie allerorten hat, beim Einkaufen, im Taxi, in den Hotels bis hin sogar auf die Toiletten, selbst in Arztpraxen und Fahrstühlen empfinde ich persönlich kaum mehr als Musik, sondern eher als lästige Geräuschkulisse, die mir aufgezwungen wird und mich belästigt.

Schreibwolff: Und was ist für Sie speziell „zeitgenössische Musik“?

Sigune von Osten: Zeitgenössische Musik ist für mich eigentlich eher ein Begriff, den es immer schon gab. Bach und Mozart, Beethoven und Schubert, Verdi und Wagner haben in ihrer Zeit zeitgenössische Musik geschrieben, ihre Musik eben. Diese war damals ebenso neu und für manchen unverständlich wie die zeitgenössische Musik, die Musik unserer Zeit heute. Nur, dass man damals ausschließlich die Musik der Zeit aufgeführt hat. Zeitgenössische Musik ist für mich also Musik der Zeit, in der ich lebe.

Schreibwolff: Musik hatte sich früher an Konventionen zu halten; diesem Diktum sind moderne Kompositionen nicht unterworfen. Ist also alles erlaubt?

Sigune von Osten: Es gibt ja heute auch noch Musikhochschulen an denen Grundlagen des Komponieren gelehrt werden. Aber darüber hinaus existieren derart viele verschiedene Musikrichtungen und Stile, dass tatsächlich der Eindruck entstehen kann, dass „erlaubt ist, was gefällt“. Die Vielfalt heute ist viel größer als noch vor 200 Jahren. Das liegt meines Erachtens auch nicht zuletzt daran, dass einerseits durch die Globalisierung ungeheuer viele kulturelle Einflüsse einwirken, die ganz neue Entwicklungen voranbringen. Zum anderen ermöglicht die fortschreitende (Kommunikations-) Technik fast jedem, mit Klängen in großer Vielfalt zu experimentieren. Man muss die Partitur nicht erst aufschreiben und dann hoffen, dass sich ein Musiker, ein Ensemble, ein Orchester findet, die diese geschriebenen Noten in Klang umsetzen. Man kann heute dank der modernen Technik sein Stück experimentierend erarbeiten und bereits vor Druck der Partitur annähernd Klangoriginal hören. Das gibt eine große Freiheit jenseits von kompositorischen Gesetzen, Neues zu erfinden.

Schreibwolff: Wen will neue Musik eigentlich erreichen?

Sigune von Osten: Jeder, der Musik schreibt, möchte, dass sie von möglichst vielen gehört wird. Das war immer so und das ist auch bei neuer Musik nicht anders. Aber ich glaube, dass sich die wenigsten mit dem Blickwinkel auf ein bestimmtes Publikum hinsetzen und schreiben. Man schreibt, was man schreiben muss, was „aus einem heraus“ möchte und fragt sich nicht: Wer wird es hören und wie kommt es an?

Schreibwolff: Besteht nicht die Gefahr, dass der eher konventionelle Hörer verschreckt wird und sich der neuen Musik auf Dauer verschließt?

Sigune von Osten: Das Problem mit der Neuen Musik ist, dass die Musikerziehung in Kindergärten, Schulen ja selbst Universitäten und Hochschulen weit hinter der Entwicklung der Musik hinterher hinkt. Die Wenigsten kommen während ihres Aufwachsens mit Neuer Musik in Berührung; gesungen wird – wenn überhaupt noch! – in den traditionellen Tonräumen und alle Gesangsübungen für zukünftige Sänger basieren ebenfalls immer noch auf dem traditionellen Tonsystem. Das bedeutet, dass das Ohr nicht an neue Klänge herangeführt wird, sie werden ihm nicht erschlossen. Wie soll dieser Mensch dann plötzlich offene Ohren haben für Klänge, die er bisher nie gehört hat, mit denen ihn keiner vertraut gemacht hat? Kinder beispielsweise, das konnte ich unter anderem bei meinem eigenen Sohn beobachten, die von Anfang an mit Neuer Musik ebenso in Berührung kommen wie mit traditioneller, haben überhaupt kein Problem mit Neuer Musik, neuen Klangen: Für die gibt es nur Musik.

Schreibwolff: Für wie wichtig halten Sie ausführliche Erklärungen der Musik?

Sigune von Osten: Ich bin der Meinung, man soll Musik hören, nicht zu viel über sie reden. Allerdings halte ich es für sinnvoll, den Hörer „an die Hand“ zu nehmen, ihn „mit zu nehmen“ oder ihm Situationen zu schaffen, wo seine Ohren und Sinne offener und gelöster sind als sonst und dadurch von vornherein Bereitschaft besteht, „anders“ zuzuhören. So mache ich es beispielsweise bei meinem Festival „Parkmusik – Neue Ho(e)rizonte“, das jedes Jahr am vierten Wochenende im August stattfindet. Da gibt es nicht viele Erläuterungen für die Neue Musik, die man da überwiegend hört, sondern da spiele ich mit dem Ambiente von unberührter Natur und historischem Gebäude und inszeniere das Festival. Hier, fernab von jedem Autolärm – die letzten einhundert Meter muss man zu Fuß zurück legen – in meterhohem Gras öffnen sich alle Sinne wie von selbst, weil so viel Stille und Natur den (Hör-) Gewohnheiten widersprechen. Und hier, die Erfahrung mache ich immer wieder, hier hören Menschen mit Freude Neue Musik, die kaum wissen, was Neue Musik ist.

Schreibwolff: Sie sind ausgebildete Sängerin – wo liegen ihre Präferenzen?

Sigune von Osten: Ich singe – obwohl auch mit Bach, Mozart, Schubert, Verdi, Wagner aufgewachsen – am liebsten Musik „meiner“ Zeit, also des 20. und 21. Jahrhunderts. Ich habe mich schon als Studentin für die Musik und die Kunst dieser Zeit interessiert und hatte das Bedürfnis, mich dafür einzusetzen. Das war für mich einfach selbstverständlich. Ich bevorzuge Musik, die Emotionen beinhaltet, die die Stimme diesbezüglich mit allen Facetten des emotionalen Ausdrucks fordert. Das finde ich vor allem ab Schönberg bis ins 21. Jahrhundert und nicht so sehr in der Musik davor, wo das harmonische „Korsett“ und dadurch das des Ausdrucks enger geschnürt sind. Meine musikalische Sprache finde ich in einer „Erwartung“ von Arnold Schönberg, einem „Wozzeck“ von Alban Berg, einer „Intolleranza“ von Luigi Nono oder bei „Harawi“ von Olivier Messiaen, mit dem ich noch arbeiten durfte, um nur ein paar Beispiele aus der klassischen Moderne zu nennen. Da fühle ich mich „zu Hause“. Das gibt es auch in jüngerer Zeit – und hier vor allem, wenn Komponisten oder Komponistinnen direkt für meine Stimme schreiben wie kürzlich die Brasilianerin Jocy de Oliveira oder derzeit Iris ter Schiphorst . Die Stimme als bloßes Instrument, als zusätzliche Klangfarbe im Reigen mit Instrumenten oder als „l‘art pour l‘art“ in höchster Virtuosität interessiert mich hingegen weniger. Wenn es leichter sein soll, singe ich auch gern Satie, Weill oder Gershwin.

Schreibwolff: Können Sie eigentlich noch Alte Musik anhören?

Sigune von Osten: Die Frage sollte eher heißen, ob ich überhaupt noch Musik hören kann? Ich bevorzuge in meiner Freizeit eher allgemein die Stille oder Wortsendungen. Wenn ich etliche Stunden gesungen und geprobt habe, dann ist es für mich Erholung, keine Musik um mich zu haben. Wenn ich dann doch Musik höre, höre ich alles, mache keine Unterschiede ob alt oder neu, U oder E, sondern nur den Unterschied, ob gut oder schlecht.

Schreibwolff: Die Unterschiede zwischen der Klassik und der neuen Musik sind ohrenfällig; aber gibt es hier auch Berührungspunkte, vielleicht sogar Gemeinsamkeiten?

Sigune von Osten: Die späten Streichquartette von Beethoven beispielsweise oder die Polyphonie von Bach sind nicht so weit entfernt von Schönbergs Streichquartetten. Zwischen Barockmusik und der Minimalmusic existieren ebenfalls gewisse Gemeinsamkeiten und es gibt ja inzwischen auch nicht wenige Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts, die an die Spätromantik anknüpfen. Das ist ja das Phänomen: Der unkundige Hörer spricht von der „sperrigen“ oder „schrägen“ Neuen Musik, die er in der Regel gar nicht kennt. Dabei gibt es darin Strömungen – auch unter den ganz jungen Komponisten –, die sind von konventioneller Musik kaum zu unterscheiden.

Schreibwolff: Ihr Schaffen im Rahmen der Neuen Musik ist äußerst beachtlich! Welche Reaktionen erleb(t)en Sie hier?

Sigune von Osten: Es klingt merkwürdig, aber ich muss sagen, dass ich ausschließlich positive Reaktionen erfahren habe. Da ich stets versuche, meine Zuhörer auf die verschiedenste Weise zu begleiten, habe ich fast ausschließlich positive Reaktionen erfahren.

Schreibwolff: Ein garstiger Musikwissenschaftler hat einmal behauptet, es sei mittlerweile genug komponiert worden. Wie würden Sie ihn überzeugen, dass das Gegenteil der Fall ist?

Sigune von Osten: Ich würde es nicht versuchen. Wenn ein Künstler – in diesem Fall ein Komponist – etwas schreiben muss, weil er sich dazu berufen fühlt, weil „heraus muss“, was in ihm „brodelt“, dann wird er sich kaum fragen, ob vor ihm schon zu viel komponiert wurde. Er wird sich hinsetzen und komponieren, weil er komponieren muss.

Schreibwolff: Frau von Osten, ich danke Ihnen für das Gespräch.

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