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Jenseits von Raum und Zeit

Wer sich mit einem Konzert an einen Ort „jenseits von Raum und Zeit“ begeben und so ja eigentlich eine neue Dimension erreichen möchte, hat sich viel vorgenommen, appelliert er doch an das individuelle Vorstellungsvermögen eines jeden Zuhörers. Das Vorhaben steht jedoch unter einem guten Stern, wenn so großartige Künstler wie das norwegische Ensemble Kapsberger unter Rolf Lislevand gleichsam die „Reiseleitung“ in ihre Hände nehmen.

Dem Motto des Usedomer Musikfestivals 2007 – „Norwegen so nah“ – entsprechend griff Lislevand mit seinen Musikern die skandinavische Folklore sowie „Solveigs Lied“ von Edvard Grieg auf und verknüpfte sie feinsinnig mit den frühbarocken Klängen eines Hieronymus Kapsberger, Girolamo Frescobaldi, Santiago de Murcia oder Gian Paolo Foscarini.

Die gehörte Musik ist ein stets wiederholtes Experiment, beruht sie doch zu einem Großteil auf dem Improvisationstalent der Musiker, was nicht nur der Blick in das von Hand grob skizzierte Notenbild verrät: Neben Rolf Lislevand (Barockgitarre und -laute sowie Vihuela), Ulla Westvik (Gesang), Bjørn Kjellemyr (Colascione und Violone), Thor Harald Johnsen (Vihuela und Chitarra Battente) und David Mayoral (Percussion) spielen keine Stücke, sie werden eins mit ihnen – und nehmen ihr Publikum mit.

Hier wird keine akademische Musik gespielt, hier wird musiziert: Volksmusik im eigentlichen Wortsinn, ja Weltmusik. Der spanische Komponist De Murcia reiste 1717 in die „Neue Welt“, Nuevo España, das heutige Mexiko, wo er die spanische Barockmusik samt ihrer mittelalterlichen und orientalischen Wurzeln mit südamerikanischen, südafrikanischen und mitteleuropäischen Wurzeln verband.

Diese Idee spiegelt sich auch im Spiel des Ensembles wider: Hier mischen sich Farben, werden Klänge und Stile gekreuzt und wie bei einem Kaleidoskop ergeben sich immer wieder neue akustische Formen und Muster.

Dabei steht Lislevand in ständigem Blickkontakt mit seinen Partnern, spielt ihnen gleichsam stilistische Bälle zu und nimmt dankbar klangliche Ideen auf. Kjellemyr greift nur selten zum Bogen, um die Saiten des Basses zum Schwingen zu bringen; oft tangieren seine Klänge die Grenze zum Modern Jazz – aber: Es passt. Mayorals Percussion bedient sich diverser Schellen, Glöckchen und Rasseln sowie des Besens, den es zu Kapsbergers Zeiten auch noch nicht gegeben haben dürfte. Dazu wechseln Lislevand und Johnsen die mit Naturdarm-Saiten bespannten historischen Instrumente und erschaffen Klänge von eigenwilliger und berauschender Schönheit – mal mit mantrahafter Akkordwiederholung, mal mit filigranem Fingerpicking.

Und damit nicht genug: Die anmutige Sopranstimme von Ulla Westvik setzt mit Liedversen oder einfachen Vokalisen wie in Kapsbergers Arpeggiata ein. Im schlichten Ambiente der Jahrhunderte alten evangelischen Michaeliskirche in Krummin verschieben sich hier tatsächlich die Grenzen von Raum und Zeit und das warme Timbre von Westviks vollem Sopran schwebt wie lichter Nebel über dem erdigen Ensembleklang.

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