Ein Chor singt gegen das Vergessen an
Über Pfingsten 2007 reiste der Windsbacher Knabenchor gemeinsam mit dem Jerusalem Baroque Orchestra nach Polen, um neben Konzerten in Breslau und Krakau auch eine Gedenkfeier im früheren NS-Vernichtungslager Auschwitz zu gestalten. Ein Gespräch mit Chorleiter Karl-Friedrich Beringer und sechs Männerstimmen einige Wichen später erzählt von den tiefen Eindrücken, die dieses Erlebnis bei allen Teilnehmern hinterlassen hat.
New York, Rio, Tokio – überall hat der Windsbacher Knabenchor schon gesungen. Große Auslandstourneen sind für das Vokalensemble, das unter der Leitung von Karl-Friedrich Beringer zu den Weltbesten zählt, zwar keine Routine, gehören aber unweigerlich zum regen Konzertleben dazu.
Drei mal war der Chor bereits in Israel – 1993, 1995 und 2000, wo er unter anderem als erstes deutsches Ensemble die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach aufführte. In den vergangenen Jahren hat sich zwischen den „Windsbachern“, ihrem Chorleiter Beringer und israelischen Künstlern nicht nur auf konzertanter Ebene ein Miteinander aufgebaut, das dem oft strapazierten Wort der Völkerverständigung einen neuen Klang gibt.
Ein Klang, der mitunter noch lange nachschwingt: Über Pfingsten 2007 reiste der Windsbacher Knabenchor erneut ins Ausland – diesmal nach Polen. Gemeinsam mit dem Jerusalem Baroque Orchestra musizierte man in Breslau und Krakau. Die Zusammenarbeit wurde zuvor während einer Probenphase im heimischen Windsbach angebahnt; auf beiden Seiten war man neugierig und auch ein bisschen angespannt: Wie kommt man miteinander klar, wo das Menetekel der deutsch-jüdischen Vergangenheit doch allgegenwärtig ist – auch wenn die Knabenchoristen, die Orchestermitglieder und selbst der Chorleiter zu jung sind, um Berührungspunkte mit der NS-Zeit zu haben.
Der Chorist Gerhard Jacobs erinnert sich: „Ich war mir auch während der Proben und der Konzerte der gemeinsamen Vergangenheit und Problematik bewusst.“ So sei es für ihn sehr beeindruckend gewesen, dass man zusammen mit einem jüdischen Orchester Musik machte: „Dass die sich dann mit der Musik von Bach auch noch auf dieses tiefeuropäische Kulturgut einließen, ist schon bewundernswert. Es war einfach klasse, mit diesem Orchester, mit diesen Leuten solche Musik zu machen. Auch, weil es ein unheimlich gutes, sensibles Orchester ist.“ So genoss man das gemeinsame Musizieren und merkte doch, „dass das eigentliche Ziel der Reise Auschwitz war“.
Nicht zuletzt wegen dieses besonderen Tages, den die Männerstimmen des Windsbacher Knabenchores mit den Orchestermusikern und dem Auschwitz-Überlebenden Aharon Kidron, Manager des Jerusalem Baroque Orchestra, erleben durften, gehört diese Reise zu den bleibenden Erinnerungen der Teilnehmer: Gemeinsam beging man am Ort des Schreckens selbst eine Gedächtnisfeier, die von einer unglaublichen Intensität war.
Was man auch Wochen danach merkt, während man mit einigen der jungen Männerstimmen darüber spricht. Und auch wenn man selbst nicht dort war – die Ergriffenheit ist spürbar. Ole Haack, Sebastian Franz, Maximilian Hischer, Christian Reinard, Gerhard Jacobs und Bijan Djafari heißen die sechs Windsbacher, die sich gemeinsam mit Chorleiter Karl-Friedrich Beringer Fragen zu diesem besonderen Singen stellten.
Durch einen Historiker erfuhren die jungen Sänger vorab, was sie im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz erwarten würde. Und doch übertraf das, was man dann zu sehen bekam, alle vorangegangenen Schilderungen: „Es ist erschreckend, was Menschen anderen Menschen antun können“, erinnert sich Christian an seine Eindrücke und fügt knapp hinzu: „Entwürdigend.“ Bijan fand die Schilderungen von Ahadron Kidron „ungleich plastischer und ergreifender“, weil das, was er erzählte, es eher möglich machte, eine Vorstellung von den Geschehnissen zu bekommen: „Als wir dann mit ihm in Auschwitz waren, gab es wohl niemanden, den seine Geschichte nicht mitgerissen hat.“
Sebastian betont, wie wichtig es für ihn gewesen sei, einen Zeitzeugen als direkten Ansprechpartner gehabt zu haben: „Aharon Kidron begleitete uns während der gesamten Reise und führte uns durch das Lager Auschwitz. Wir erfuhren, welches Leid ihm in den Lagern angetan wurde, dass er dort einen Teil seiner Kindheit verbringen musste. Er erzählte uns viel aus seiner Vergangenheit, seinen Aufenthalten in mehreren Konzentrationslagern und diskutierte mit uns auch über die deutsche Vergangenheit. Ich bin sehr froh, diesen Menschen kennen gelernt zu haben; für mich ist es mit seiner Person verbunden, das diese Konzertreise einzigartig und unvergesslich wurde.“ Auch Gerhard ist sich sicher: „Das Wertvollste an der ganzen Sache war, dass ein Überlebender aus dem KZ Auschwitz-Birkenau dabei war. Dass er das alles immer wieder erzählt, ist ihm sehr hoch anzurechnen – dafür sind wir ihm alle sehr dankbar.“
Ob man sich selber schuldig gefühlt hätte? Ole fürchtet, dass viele Menschen „irgendwie abschalten“, wenn auf allen Kanälen die Nazizeit heraufbeschworen wird: „Aber an so einem Ort hat man doch irgendwie das Gefühl, mit schuld zu sein.“ Diese Ansicht wird zwar nicht von jedem geteilt – doch alle spüren nach dem Besuch in Auschwitz, wie wichtig es ist, sich zu erinnern.
Chorleiter Beringer, der unterstreicht, eine solche Reise noch niemals gemacht zu haben, erinnert sich an das quälende Gefühl, das ihn während des Rundgangs durch die verschiedenen Stationen des Vernichtungslagers beschlich: „Irgendwann konnte ich nicht mehr, mir war richtig schlecht“, gibt der Musiker zu und schüttelt den Kopf über Besucher, die mit erhobenen Händen vor der Erschießungswand für ein Erinnerungsfoto posierten.
Dem stimmen auch die Männerstimmen zu: „Der Besuch von Auschwitz war beeindruckend und bedrückend, da so etwas bislang weit außerhalb meiner Vorstellungskraft lag“, sagt Gerhard: „Aber gerade das ist das Schlimme an Auschwitz: Erst nach dem Besuch habe ich verstanden, dass man es gesehen haben muss um zu begreifen, dass man sich gar nicht vorstellen kann, was damals verbrochen wurde. Man kann höchstens versuchen, sich ein Bild von dem zu machen, was geschah, wird aber die Bedeutung für die vielen, vielen einzelnen Persönlichkeiten niemals ermessen können.“ Und Beringer meint: „Ein Besuch dieses ehemaligen Vernichtungslagers bringt sicherlich viel mehr als jedes Holocaust-Denkmal.“
„Wir haben hier eine besondere Atmosphäre gespürt. Das hat einen ganz anderen Bezug zu dem geschaffen, was damals passiert ist“, meint Ole: „Erschreckend war für mich, dass die Landschaft so schön war: Vögel haben gesungen und ein leichter Wind ging, fast wie im Urlaub. Und wenn man sich dann vergegenwärtigt, welche Verbrechen hier stattgefunden haben, wurde man schon sehr nachdenklich. Vor allem die Baracken haben uns immer wieder daran erinnert, wo wir eigentlich sind. Die landschaftliche Schönheit stand dann zu unserer gedrückten Stimmung in einem krassen Widerspruch.“
Die Gedenkfeier selbst wurde in der „Sauna“ abgehalten, wie einer der Räume des einstigen Vernichtungslagers zynisch hieß: Zwei Musiker spielten Violine und Querflöte und die Männerstimmen sangen die Psalmvertonung „Die Erlöseten des Herrn“ von Emanuel Vogt. Verlesen wurden hebräische und deutsche Texte, darunter ein Protokoll aus dem „Eichmann-Prozess“, das von einem Auschwitz-Überlebenden berichtete. Zum Schluss sangen die Mitglieder des Orchesters die israelische Hymne: „Hier lief allen Beteiligten ein Schauer über den Rücken“, erinnern sich Ole und Maximilian: „Als die Israeli ihre Nationalhymne anstimmten, blieb kein Auge trocken. Keiner von uns wird den Tag je vergessen.“
„Die gemeinsame Gedenkfeier im Anschluss war sehr, sehr wertvoll, da sie einem ermöglichte, das Gesehene zu verarbeiten und mit sich selbst bezüglich dieser Verbrechen der damaligen Generationen ins Reine zu kommen“, beschreibt Gerhard seine Eindrücke: „Es ist nicht so, dass man Schuld hätte; aber man hat die Verantwortung, die Wunden von damals zu heilen und zu verhindern, dass so etwas wieder passiert.“ Die Gedenkfeier sei auf jeden Fall ein Schritt in diese Richtung gewesen: „Es war hilfreich, sich mit Juden gemeinsam der deutschen Vergangenheit zu stellen. Auschwitz ohne diese Gedenkfeier wäre für uns kaum zu verarbeiten gewesen.“
Was die Sänger ebenfalls nachhaltig beeindruckte und ermutigte, den Dialog mit den israelischen Musikern zu suchen, war, dass den deutschen Choristen seitens der Orchestermitglieder keinerlei Vorwurf gemacht wurde. Im Gegenteil: Bei einer die Reise beschließenden Feier war von einer Reserviertheit, wie man sie nach dem Besuch einer derart geschichtsträchtigen Stätte vielleicht vermuten mag, nichts zu spüren. Stattdessen feierte man am Ende bis tief in die Nacht gemeinsam die erfolgreiche Konzertreise. Und ganz sicherlich unbewusst auch die „Grundsteinlegung“ eines gefestigten Geschichts- und damit Verantwortungsbewusstseins, das die jungen Sänger bereitwillig in ihrem Reisegepäck mit nach Hause, nach Deutschland nahmen.
„Aharon Kidron hat es sich als heilige Mission gesetzt, dieses ‚Vergesst es nie!‛, diesen Ruf, diese Mahnung weiterzugeben, damit der Welt bewusst bleibt, das wir derartiges verhindern müssen“, ist Bijan überzeugt: „Ich glaube, dass er mit dieser Reise seine Mission auch an uns weitergegeben hat, denn auch wenn wir damals nicht dabei waren, verstehen wir das Schicksal der Opfer nun wahrscheinlich besser als alle, die es nur aus dem Schulunterricht kennen. Und ich glaube, wir haben seine Mission angenommen.“