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Das Parodieverfahren in Bachs Weihnachtsoratorium

Man muss sich schon ziemlich genau im Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs auskennen, um beim Hören seines Weihnachtsoratoriums ein bestimmtes „Aha-Erlebnis“ zu haben. Denn es waren die weltlichen Kantaten, die dem Thomaskantor als Vorlage für Chöre und Arien für das spätere Oratorium dienten. Und doch: Mit neuem Text und in neuem Kontext schuf Bach auf wunderbare Weise gewissermaßen eine ganz neue Musik: BWV 248.

Sicherlich hat der Leser dieser Zeilen schon mal einen Parodisten gesehen: vielleicht wie der Kabarettist Thomas Freitag die früheren Bundeskanzler Kohl und Brandt nachahmte oder sich sein Kollege Mathias Richling aktuell das gesamte Berliner Politpersonal vorknöpft. In der Barockmusik versteht man unter einer Parodie jedoch etwas gänzlich anderes: die Verwendung vorhandenen Tonmaterials in neuen musikalischen Zusammenhängen. Bach war zweifelsohne ein Meister dieser Parodiekunst, sein „Meisterstück“ hier sicherlich die h-moll-Messe. Doch auch im Weihnachtsoratorium finden sich zahlreiche Stücke, die Bach bereits für frühere Werke komponiert hatte.

Eine schematische Übersicht im von Michael Heinemann herausgegebenen Bach-Lexikon zeigt eindrucksvoll die Zusammenhänge und verweist mit zahlreichen Pfeilen auf die neue Verwendung von Chören und Arien aus den Vorlagekompositionen in BWV 248. Und Hans-Joachim Schulze schreibt in seiner Abhandlung über das Kantatenwerk, das Weihnachtsoratorium sei „bestimmt vom Miteinander original komponierter, beziehungsweise anderweitig geschaffener und in umgearbeiteter Gestalt übernommener Sätze“. 22 Partien des Weihnachtsoratoriums hat Bach sozusagen wiederverwertet, neu hingegen sind sämtliche Rezitative. Die sechste Kantate ist diesbezüglich sogar komplett „recycelt“: Bach-Forscher orten als Vorlage (mit Ausnahme der Evangelisten-Worte und des Chorals Ich steh‘ an Deiner Krippen hier) eine verschollene Kirchenkantate des Thomaskantors.

Weltliche Kantatensätze als Vorlage
Tatsächlich hat sich Bach für sein geistliches Oratorium in seinem weltlichen Kantatenwerk bedient. Lange Zeit war es für die Bach-Forschung und vor allem die -Enthusiasten problematisch, dies zu akzeptieren. Bach-Biograph Philipp Spitta schrieb 1880, der Thomaskantor habe ja eigentlich gar nichts „Unkirchliches“ schreiben können: „Seine weltlichen Gelegenheitswerke waren vielmehr unweltlich, und als solche erfüllten sie ihren Zweck nicht und der Componist gab sie ihrer eigentlichen Heimath zurück, wenn er sie zu Kirchenmusiken umwandelte“. Was Bach wohl zu dieser These sagen würde?

Albert Schweitzer missfiel vor allem, dass durch die Neutextierung Wort und Ton an vielen Stellen einander fremd geworden seien. Und in der Tat fallen einem, vergleicht man die Textpassagen der Vorlagen und des Oratoriums, Gegensätze auf. Ein Beispiel: In der Kantate „Herkules auf dem Scheideweg“ – BWV 213 entstand 1733 als Geburtstagskantate für den sächsischen Prinzen Friedrich – heißt es Ich will Dich nicht hören, / ich will Dich nicht wissen, / verworfene Wolllust, ich kenne Dich nicht.; in der ersten Kantate von BWV 248 begegnet uns die Arie vom Alt gesungen: Bereite Dich, Zion, / mit zärtlichen Trieben, / den Schönsten, den Liebsten / bald bei Dir zu sehn. Dort Ferne und Abwehr, hier die Sehnsucht nach Nähe. Ironischerweise behandelt das weltliche Vorbild die griechische Götterwelt, während das Weihnachtsoratorium die Ankunft des Christus thematisiert.

Den Sagenheld Herkules lässt Bach fragen: Treues Echo dieser Orten, / sollt ich bei den Schmeichelworten / süßer Leitung irrig sein? / Gib mit Deine Antwort: Nein! Das Echo antwortet entsprechend. Und im Weihnachtsoratorium? Da fragt die gläubige Seele das Jesuskind mit den gleichen Tönen: Flößt mein Heiland, flößt Dein Namen / auch den allerkleinsten Samen / jenes strengen Schreckens ein? / Nein, Du sagst ja selber nein. Und weiter: Sollt ich nun das Sterben scheuen? / Nein, Dein süßes Wort ist da! / Oder sollt ich mich erfreuen? / Ja, Du Heiland sprichst selbst ja. Der Echo-Dialog mit der Stimme des Jesus-Kindes greift dabei auf eine weit in das 17. Jahrhundert reichende Tradition zurück.

Aus der angeführten Glückwunschkantate kommt übrigens auch der Eingangschor vom vierten Teil des Oratoriums: Lasst uns sorgen, lasst uns wachen wird zu Fallt mit Danken, fallt mit Loben. Alle Eingangschöre sind im Parodieverfahren entstanden: Jauchzet, frohlocket ist eine Blaupause von Tönet, Ihr Pauken aus BWV 214, einer Geburtstagskantate für die sächsische Kurfürstin und polnische Königin Maria Josepha aus dem Jahr 1733, aus der auch der Chor Blühet, Ihr Linden in Sachsen entnommen und zu Herrscher des Himmels wurde. Der Beginn der fünften Kantate Ehre sei Dir, Gott gesungen erinnert wiederum an einen Chor aus der Kantate BWV 213: Lust der Völker, Lust der Deinen; dieses Stück war jedoch selbst wiederum eine Parodie des Schlusschors einer Pfingstkantate. Auch weitere Arien wurden diesen Werken entnommen, zu denen sich noch BWV 215 als 1734 komponierte Huldigungskantate zum Jahrestag der Krönung des sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. zum König von Polen gesellt, ebenfalls Bearbeitung einer Glückwunschlantate auf August den Starken.

Wurzeln im 15. Jahrhundert
Seine Wurzeln hat das Parodieverfahren im 15. Jahrhundert und ist bis zum 17. in Messen von Josquin Desprez, Orlando di Lasso oder Giovanni Pierluigi da Palestrina dokumentiert. Als Vorlage dienten hier geistliche und weltliche Kompositionen wie Motetten oder Chansons. Anders als beim reinen Austausch von Textstellen nimmt der Komponist im Parodieverfahren durchaus auch Einfluss auf die musikalische Gestalt der Vorlage, indem er Stimmen hinzufügt oder weglässt, die Melodieführung, Tonart, Harmonie oder Rhythmik ändert. Bach nutzt zwei Techniken des Parodierens: Bei der für das Weihnachtsoratorium angewandten wird der bereits vorhandenen Musik ein neuer Text unterlegt; in der zweiten Verfahrensweise löst der zu vertonende Text bestimmte Assoziationen an eine bestehende Komposition aus, die dann in neuem Zusammenhang verwendet wird, was Bach in seiner h-moll-Messe zeigt. So wird beispielsweise der Chor Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen aus BWV 12 zum Crucifixus in BWV 232.

Was Bach bewogen haben mag das Parodieverfahren anzuwenden, liegt natürlich auf der Hand: Das Arbeitspensum des Komponisten war zumal als Thomaskantor derart hoch, dass es einfach eine enorme Erleichterung bedeutete, wenn Bach eigene Werke sozusagen kopierte. Zum anderen waren die besagten Glückwunschkantaten personengebundene Werke, die nicht zur Aufführung vor größerem Publikum oder Wiederholungen gedacht waren. Mit dem Parodieverfahren konservierte er besondere Stücke also gewissermaßen in neuem Gefäß. Allerdings vermutet Hans-Joachim Schulze auch, dass Bach einige Stücke durchaus „bereits vorausschauend auf eine Wiederverwendbarkeit hin angelegt“ haben könnte.

Ursprünglich keine universelle Kirchenmusik
Bachs „Weihnachtsoratorium“ ist ein eigenständiges Werk, selbst wenn es nicht als in seiner Gesamtheit aufzuführender Kantatenverbund angelegt war: Die einzelnen Teile schrieb der Thomaskantor für die Weihnachtszeit 1734/1735 und hier jeweils als „Haupt-Musicen“ für die Gottesdienste an St. Thomas und St. Nicolai an den Feiertagen zwischen dem ersten Weihnachtstag und Epiphanias – also nicht als universelle Kirchenmusik, als die wir sie heute auffassen, wohl aber als ein zyklisches Ganzes, in dem sich das Folgende auf das Vorangegangene bezieht. Heutige Aufführungen aller sechs Kantaten an einem Tag oder gar Abend entbehren allerdings jedes historischen Vorbilds und sind, um es diplomatisch zu formulieren, eine kräftezehrende Herausforderung nicht nur an die Aufführenden, sondern auch an den Zuhörer. Daher beschränkt man sich sinnvollerweise meist auf eine Auswahl oder die Aufführung in zeitlich versetzten Blöcken.

Abschließend sei das Vorwort der Bärenreiter-Ausgabe von Bachs Weihnachtsoratorium zitiert. Alfred Dürr schreibt hier: „Bei der Komposition bewundern wir wieder, wie so oft, die Fähigkeit Bachs, aus verschiedenartigen älteren und ad hoc komponierten Stücken ein neues und in sich ausgewogenes Gesamtwerk zu schaffen.“ Und Hans-Joachim Schulze schließt seine Abhandlung über die erste Kantate von BWV 248 mit den Worten: „Der Erfolg dieser Zusammenschau ist seit Generationen unumstritten.“

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