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Ganz großes Kino im Theater

1990 kam der Film „Der Club der toten Dichter“ in die deutschen Kinos. Im Zentrum der Handlung, die 1959 in einem amerikanischen Elite-Internat spielt, steht die Diskrepanz zwischen vorgegebenen Denkstrukturen und dem eigenständigen Gebrauch seines kritischen Verstandes, zwischen jugendlicher Selbstfindung und vorgeschriebenen Lebensläufen. Das Drehbuch von Tom Schulman erhielt im gleichen Jahr einen Oscar, der Film war in drei weiteren Kategorien nominiert – unter anderem für die beste Regie (Peter Weir) und den besten Schauspieler: Robin Williams. Es war die wohl wichtigste Rolle des 2014 verstorbenen Mimen.

„Dead Poets Society“, so der Originaltitel, ist ein Film, der nachwirkt, so eindringlich erzählt er die Geschichte um die sechs Schüler Todd Anderson, Knox Overstreet, Charlie Dalton, Richard Cameron, Steven Meeks und Gerard Pitts. Sie erleben den strengen Internatsalltag und wie der einstige Schüler der Welton Academy, John Keating, dort seinen Dienst als Lehrer für englische Literatur antritt. Schnell gewinnt der charismatische Pädagoge (dem der im gleichen Jahr wie Williams verstorbene Peer Augustinski im deutschen Film so unglaublich warm und eindringlich seine Stimme lieh), das Vertrauen der Jungs und ermutigt sie, ihren eigenen Weg zu gehen – allen voran Neil, den es zur Schauspielerei zieht.

Die Geschichte endet jedoch in einer Tragödie: Der Schüler nimmt sich das Leben, nachdem ihm sein Vater, für den Theater Zeitverschwendung ist, klargemacht hat, er müsse sich seinem Willen beugen. Die Schule macht Keating für den Suizid verantwortlich und entlässt ihn, doch im letzten Moment rebellieren die Eleven: Die Szene, in der einer nach dem anderen auf die Schulbank steigt und den Vers des amerikanischen Dichters Walt Whitman „O Captain, mein Captain“ rezitiert, geht einem immer wieder unter die Haut.

So auch in Bad Vilbel, wo die Burgfestspiele in der Spielzeit 2023 den „Club der toten Dichter“ auf die Bühne bringen. Zwei Jahre zuvor war die Theaterfassung von Joern Hinkel und Tilman Raabke bereits in Bad Hersfeld zu sehen, wo sie des großen Erfolgs wegen auch in diesem Jahr aufgeführt wird und beide für Inszenierung und Dramaturgie persönlich verantwortlich zeichnen. Doch auch in Bad Vilbel erlebt das Publikum in über zwei Stunden eine ergreifende Adaption des bekannten Films, der den Bühnenautoren über weite Strecken als exakte Blaupause diente. Und das ist auch gut so: Das Stück setzt auf den hohen Wiedererkennungswert markanter Szenen, erzählt aber auch dem, der den Film nur einmal oder gar nicht gesehen hat, die Geschichte plausibel.

Die Bühne in Bad Vilbel ist holzvertäfelt – man befindet sich im Gemäuer der altehrwürdigen Welton Academy. Dargestellt sind ein Zimmer mit Stockbett und natürlich das Klassenzimmer. Die Jungs tragen zur grauen Bügelfaltenhose einen blauen Blazer mit Krawatte und Schulwappen. Weltons Grundprinzipien lauten „Tradition, Ehre, Disziplin und Leistung“, der Tag ist streng getaktet: Schule und Lerngruppen bestimmen das Leben der künftigen Elite. Bis auf wenige textliche Glättungen entspricht die Geschichte dem Original, nur weniges wird weggelassen oder straffend umgeschrieben So erhält Neil von seinem Vater zu Beginn dessen alte Armeepistole als Geschenk – im Film entnimmt er die Waffe nach der Demütigung durch den Vater dem elterlichen Schreibtisch.

Gleichviel: Man ist in jedem Augenblick vollkommen in der Geschichte, was vor allem an der herausragenden Leistung des Ensembles liegt. Ralph Hönicke spielt Keating und nimmt einen sofort für sich ein. Friedemann Eckert gibt den schüchternen Todd Anderson, der immer mehr in die Gemeinschaft hineinwächst und schließlich als erster mutig das Pult erklimmt – er steht der Leistung des damals 19-jährigen Ethan Hawke in nichts nach. Überhaupt sind sämtliche Rollen überzeugend besetzt: vom aufsässigen Dalton (Steffen Weixler), über den ängstlichen Opportunisten Cameron (Max Böttcher) und den verliebten Knox (Jonah Winkler) bis zum unsympathisch autoritären Vater Perry (Martin Bringmann), um nur ein paar Namen zu nennen. Neben Hönicke brilliert vor allem Sebastian Zumpe, der den Neil Perry verkörpert: Er gleicht sogar äußerlich dem jungen Robert Sean Leonard, der im Film diese Rolle spielte.

Das Stück, dass auch von seiner phantasievollen Skizzierung lebt – die Höhle, in der sich der Club trifft, ist ein mit Grün dekorierter Balkon, eine Szene im Bad wird mit Kamm und Zahnbürste angedeutet – geizt auch nicht mit ironischen Überraschungen: So gibt Tobias Gondolf sowohl den autoritären Pauker George McAllister als auch den ruppigen Highschool-Sportler Chet Danburry und ist sogar noch in „Shakespeares „Sommernachtstraum“, in dem Neil Perry den Puck spielt, als phantastisch dekorierter Oberon zu sehen. Findet bei Shakespeare ein Theater im Theater statt, wird genau das hier zum Ereignis. Wunderbar!

Die von Pascale Arndtz liebevoll ausgestattete Inszenierung lässt also keine Wünsche offen. Sie unterhält und berührt gleichermaßen – genau wie die filmische Vorlage damals und heute. Regisseurin Milena Paulovics hat die Geschichte behutsam und überzeugend auf die Bühne übertragen. Dabei widersteht sie der Versuchung, den „Club der toten Dichter“ aus aktuellem Anlass zu politisieren: Im Film geht es um die Liebe zur Literatur, zum Theater, zu einer jungen Frau, aber auch um das eigenständige Denken. Wer in Reportagen aus Russland gesehen hat, wie dort aktuell schon jüngste Schulkinder indoktriniert und mit Lügen gefüttert werden, kann gar nicht anders, als auch im „Club der toten Dichter“ zwischen den Zeilen zu lesen.

Die Burgfestspiele Bad Vilbel haben mit dieser Inszenierung also etwas in Szene gesetzt, was in Zeiten der Trolle und Fakenews so unglaublich wichtig ist: Egal, was andere Dir erzählen, denke selbst nach, suche die Wahrheit – auch wenn sie, wie Todd Anderson erkennend dichtet, eine zu kurze Decke ist, bei der man immer kalte Füße bekommt. Denn ohne sie wird es verdammt kalt …

Fotos: Burgfestspiele Bad Vilbel/Eugen Sommer. Mehr zum aktuellen Programm gibt es unter: https://www.kultur-bad-vilbel.de

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