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Das kollektive Gedächtnis der Satire

Der Schriftsteller und eifrige Sammler von Briefen und Geschichten Walter Kempowksi merkte einmal an, dass man die Kultur eines Volkes nicht zuletzt an seinen Archiven zu messen habe. Dieses Zitat findet sich auch im Deutschen Kabarettarchiv, das nach vielen Umzügen seinen festen Platz 2004 im Proviant-Magazin der Landeshauptstadt Mainz gefunden hat.

Sein 2010 verstorbener Schöpfer Reinhard Hippen begann schon früh akribisch alles zu sammeln, was seine Leidenschaft, das Kabarett und die Kleinkunst, betraf. Wie ein Mosaik trug er Steinchen um Steinchen zusammen: Programme, Fotos, Plakate, Zeitungsausschnitte. Irgendwann zog es ihn nach Mainz, der Grund hieß: Hanns Dieter Hüsch. Später band ihn auch das Unterhaus als eine der wichtigsten deutschen Kleinkunstbühnen an die Stadt. Hüsch, dessen Manager der heutige Geschäftsführer der Stiftung Deutsches Kabarettarchiv, Jürgen Kessler, lange Jahre war, trat ebenfalls hier auf.

Und irgendwie hing ja alles zusammen: das Unterhaus, Hippen, das Archiv, Hüsch, Kessler. Auch die Stadt Mainz begann sich für das gesammelte Material zu interessieren und erwarb es nach einigem Hin und Her, um schließlich gemeinsam mit der Kulturstiftung des Landes und Mitteln des Bundes die Stiftung Deutsches Kabarettarchiv e.V. als Dokumentationszentrum deutschsprachiger Satire ins Leben zu rufen.

„Hier lässt sich die Geschichte des Kabaretts in Deutschland hautnah miterleben“, sagt Kessler während eines Rundgangs durch die 870 Quadratmeter Räumlichkeiten im Parterre des Proviant-Magazins. Der satirische Zeitstrahl, der die Regale erhellt, hat seinen Ursprung im Jahr 1901 und wird auch durch die Sterne des „Walk of Fame des Kabaretts“ zwischen Unterhaus und Archiv dokumentiert. Hier nicht im Gestern zu verharren, fällt schwer: Von unzähligen Fotos blicken einen sepiafarbene Portraits der Großen an: Werner Finck, Dieter Hildebrandt, Marlene Dietrich, Heinz Erhardt, Helmut Qualtinger, Emil, Werner Schneyder, Loriot, Otto Reutter, Jürgen von Manger – alle aufzuzählen füllte Seiten…

„Wo sie gerade Seiten sagen“, würde der rheinische Kabarettist Jürgen Becker jetzt überleiten: Das Herzstück der Stiftung ist natürlich das gesammelte Material, das von Jürgen Kessler, Sekretärin Marion Meisenzahl, Archivar Matthias Thiel sowie weiteren Honorarkräften gepflegt und verwaltet wird. Im anhaltinischen Bernburg an der Saale kümmern sich Kollegen seit 2004 außerdem um das Kabarett der DDR.

In Tausenden von Aktendeckeln finden sich drüben wie hüben künstlerische Biografien und Zeugnisse von eigentlich jedem, der je auf einer Kleinkunstbühne gespielt hat. Als Mainzer fragt man natürlich nach Lokalmatador Lars Reichow und sofort schreitet Thiel in den entsprechenden Gang, zieht einen von (vorerst) vier Ordnern aus dem Regal: Fotos vom jungen Lars, wie er noch mit seinem Vater bei Hüsch Posaune spielt, Texte, Rezensionen, Briefe, Verträge, Flyer – alles da.

Doch für wen? Schickt beispielsweise ein Urban Priol sein neustes Programm mit der Bitte, es unter P abzuheften, um sich eine Kopie zu ziehen, falls er sein Manuskript mal verlegt hat? „Früher war das tatsächlich so“, erinnert sich Kessler daran, wie er Hüsch mal ein eigentlich schon archiviertes Programm hinterherfuhr. Heute fragen allerdings weniger die Künstler selbst nach ihren Manuskripten: Tagtäglich erreichen das Archiv Anfragen per Brief, Telefon und E-Mail; Forscher in Sachen Linguistik, Soziologie, Politikwissenschaft, Film, Theater und Musik sowie Journalisten schätzen das Archiv ebenso wie Schulklassen aus dem gesamten Bundesgebiet.

Allein schon aus den Anfragen, die übrigens nicht nur aus Deutschland kommen, lasse sich die kulturelle Bedeutung des Archivs als „weltweit gefragte Fundgrube und Kommunikator für Satire“ ablesen, betont Kessler, der den rheinland-pfälzischen Kulturstaatssekretär Walter Schumacher gebeten hat, bei der Unesco den Antrag auf Anerkennung von Satire als Weltkulturerbe zu stellen. Fakt ist: Wer etwas sucht, ein Lied von Friedrich Hollaender oder ein Programm der Münchner „Lach- und Schießgesellschaft“ vielleicht, der wird in Mainz fündig.

Das papierne Archiv wird nach und nach digitalisiert, doch das dauert angesichts des stetig wachsenden Bestands. Über 80 Nachlässe, darunter das Œuvre von Werner Finck oder Trude Hesterberg, werden hier verwaltet. Unzählige Bögen Papier, eine Bilderflut, Bühnenoutfits von Hüsch, Finck oder Helen Vita, Plakate und großformatige Tafeln von informativen Ausstellungen, mit denen die Stiftung wie einst ihre Künstler durch die Republik „tingelt“ – der Schweizer Kabarettist Franz Hohler hat mit seinem Zitat an der Tür zu Kesslers Büro nicht Unrecht: „Wenn wir auch sonst nirgendwo hinkommen, kommen wir wenigstens ins Archiv.“

Informationen zum Archiv und den laufenden Ausstellungen gibt es im Internet unter http://www.kabarettarchiv.de.

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