Jahrelang auf den Strich geschickt
Vielleicht lag es ja daran, dass man am 1. Januar gewöhnlich etwas anderes feiert, dass Feuilletons an diesem Tag in der Regel nicht erscheinen, oder dass Osvaldo Cavandoli nun mal kein Rembrandt war und man deshalb seines Geburtstags, der sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährte, nicht so recht gedacht hat. Dabei ist Cavandoli der Schöpfer einer recht berühmten Comicfigur: Lui aus der Serie „La Linea“.
Geboren wurde Osvaldo Cavandoli am 1. Januar 1920 in Maderno am Gardasee. Aufgewachsen in Mailand wählte er den Beruf des Zeichners und arbeitete ab 1936 Lebensjahr einige Jahre als technischer Designer für die Automarke Alfa Romeo. 1943 entdeckte er für sich das Genre der Animation und wechselte als Studiozeichner zu Nino Pagot, der mit seinem Bruder Toni später die Idee zur Figur Calimero haben sollte – jenes kleine schwarze Küken mit der Eierschale auf dem Kopf, das im ZDF erstmals am 5. Oktober 1972 zu sehen war.
22 Jahre zuvor hatte sich Osvaldo Cavandoli bereits selbstständig gemacht und arbeitete als Produzent und Regisseur. Etwa zur gleichen Zeit, in der die Pagot-Brüder die Idee zu Calimero hatten, entstanden auch die „La Linea“-Filme, 1969 erschaffen und ab 1972 in zahlreichen filmischen Kurzgeschichten sowie Werbespots umgesetzt und vermarktet. Ursprünglich hatte Cavandoli den Auftrag gehabt, für den italienischen Küchengerätehersteller Lagostina ein grafisches Konzept für einen Werbefilm zu entwickeln, wofür der Zeichner den Wunsch hatte, etwas komplett Neues zu erschaffen.
Statt leuchtender Farben und Detailverliebtheit setzte Cavandoli auf Schlichtheit und Gradlinigkeit. „Ich starrte also auf das weiße Papier und fing an herumzukritzeln. Meine Hand mit dem Stift war ständig in Bewegung und zog vor meinen Augen Linien. Als ich die Linien insgesamt betrachtete, merkte ich, dass der beste Einfall war, alles auf eine einzige Linie zu reduzieren, und mit dieser einen Linie alles, was ich erzählen wollte, auszudrücken“, beschrieb der Cartoonist die Entstehung seines Strichmännchens.
Die „La-Linea“-Kurzfilme beginnen stets mit der gleichen Szene: Eine Hand hält einen weißen Stift und zeichnet eine großnasige Figur – von Cavandoli übrigens Lui (italienisch für Er) genannt. Lui begrüßt seinen Schöpfer winkend und (noch) gut gelaunt. Das immer wiederkehrende Element ist der dann folgende jähe Abbruch der Linie, worauf sofort das Gezeter beginnt, was den Zeichner schnell veranlasst, sein Männchen zu beschäftigen und es buchstäblich weiter auf den Strich zu schicken.
Dazu erklingt Musik des italienischen Komponisten und Arrangeurs Franco Godi, dessen Klänge auch die Comicfigur des Signor Rossi auf der Suche nach dem Glück begleiteten. Noch etwas ist markant: Luis Stimme. Ständig brabbelt er vor sich hin oder zankt mit seinem Schöpfer, wofür ihm der italienische Synchronsprecher Carlo Bonomi sein Organ lieh. Luis „Sprache“ ist dabei ein Kauderwelsch mit italienischen sowie englischen Einsprengseln und allein durch ihre Gestik und im Handlungszusammenhang verständlich – sicherlich mit ein Grund für den weltweiten Erfolg von „La Linea“.
Alles zusammen, die minimalistische Zeichnung, die Musik und die Stimme, geben „La Linea“ also den Rahmen für die Plots der über hundert Kurzfilme: Lui beginnt auf der Linie vom rechts nach links zu laufen und kommuniziert mit seinem Schöpfer, der ihm auf Wunsch Gegenstände oder Szenerien skizziert, mit denen nun hantieren ist: Mal begegnet er einer Schildkröte, die ihm alsbald in die Nase beißt, mal bekommt er einen Roller gestellt, mal ein Auto; er begegnet Tieren, fährt Boot, schwimmt, wird von galoppierenden Pferden überrannt, trifft auf einen Dinoauerier, spielt Geige, klettert nach oben, fällt nach unten. Dass Lui stets etwas passiert, was ihn aus dem (seelischen) Gleichgewicht bringt, ist das Konzept von „La Linea“ und Cavandolis Hand dabei so etwas wie der Deus ex machina der griechischen Tragödie, der eingreift und der Geschichte zu einer Wendung verhilft.
Zwei wichtige Züge charakterisieren Lui in jeder Folge: Zum einen ist er unglaublich cholerisch und wettert schnell mit drohend erhobener Faust gen Himmel, womit er seinen Schöpfer zum zeichnerischen Eingreifen drängt. Und zum anderen ist er zuweilen boshaft und lacht lauthals (und durchaus schadenfroh) – erst kichernd, dann prustend. Trotz dieser Wesenszüge bleibt Lui als ständig nörgelndes Männchen aber stets sympathisch – wohl auch, weil sich der Zuschauer seinerseits über das Unbill herzlich amüsieren darf.
Tatsächlich lädt Lui den Betrachter zur Selbstreflexion ein: Wie hilflos fühlt man sich zuweilen und sehnt sich nach der Unterstützung einer höheren Macht, die alles zum Guten wendet? Wie unzufrieden ist man mit den aktuellen Gegebenheiten – und mit allen Alternativen? Denn richtig zufrieden, glücklich gar wird Lui, dessen Lebenslinie vom Zeichner am Ende immer abrupt beendet wird, wodurch das Männchen in die Tiefe strebt, ja nie. Und wie steht es mit dem eigenen Hang zur Schadenfreude, den man sich natürlich nie eingestehen möchte?
Philosophie hin oder her: Der kommerzielle Erfolg von „La Linea“ lag nicht nur an der Vermarktung in über 40 Ländern, sondern auch an Luis Einsatz als Werbeträger für eine Hämorrhoiden-Salbe, ein polnisches Mobiltelefon, ein isländisches Geldinstitut sowie eine Automarke. Die Animation gewann zahlreiche Preise, darunter 1972 in Annecy die Auszeichnung als „Bester Zeichenstrip“. 1978 und 1988 entstanden außerdem die Cartoons „Sexilinea“ und „Eroslinea“, in denen unter anderem die Beziehung zwischen den Geschlechtern aufs Korn genommen wird.
Die Kurzfilme sind mittlerweile in einer Kollektion mit drei DVDs erschienen: ein Vergnügen für alle linientreuen Fans und ein schönes Geschenk an sich selbst, um den 100. Geburstag von Osvaldo Cavandoli, der am 3. März 2007 in Mailand verstarb, fast fünf Stunden lang gebührend zu feiern.