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Ohne Musik keine Reformation

Die Reformation 1517 hätte ohne Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks kaum stattgefunden. Auch die Musik hatte in Form des Liedes einen großen Anteil daran, dass sich Luthers Lehre wie ein Lauffeuer verbreiten konnte.

Würde der streitbare Theologe heute leben, er hätte sich sicherlich der modernen Medien bedient, um seine Ansichten zu verbreiten. Und versetzte man Facebook und Twitter ins Jahr 1517, würde man wahrscheinlich unter „#95 Thesen“ lesen können, was Luther vom Ablasshandel hält. Wie viele Gläubige dies wohl geteilt und mit einem „Gefällt mir“ versehen hätten? Nun hatte Luther weder Facebook noch Instagram. Aber die Musik. Und vor allem: das Lied! Hierfür dichtete er Psalmen um und vertonte sie, regte zu entsprechenden Kompositionen an, übertrug altkirchliche Gesänge vom Lateinischen ins Deutsche, schrieb biblische Erzählweisen und Kinderlieder. Eines davon wohl für die eigenen: „Vom Himmel hoch, da komm ich her.“

Bereits in der Schulzeit war Luther mit der Musik in Berührung gekommen, schließlich gehörte seinerzeit eine umfassende musiktheoretische Ausbildung zum Schulunterricht; praktische Erfahrung sammelte er schon früh als Chorsänger und später in Erfurt, wo er unter anderem das Lautenspiel erlernte. Wäre es nach dem Willen des Vaters gegangen, so hätte Luther eine juristische Karriere eingeschlagen, wofür er ab 1501 an der Universität in Erfurt studierte. Die Jurisprudenz blieb allerdings auf der Strecke, als er 1505 in das Eremitenkloster des Augustinerordens eintrat und zwei Jahre später das Theologiestudium aufnahm. Auf einer Romreise 1511 begeisterte er sich für die musikalischen Strömungen jener Zeit.

Die „Wittenbergische Nachtigall“
Vor allem das gesungene Gotteslob lag dem Reformator, der für kirchliche Prunkbauten, Architektur und Malerei nichts übrig hatte, am Herzen. An Johann Walter, Kantor und Autor des ersten evangelischen Chorgesangbuchs, schrieb er: „Wenn ich nicht Theologe wäre, so würde ich am liebsten Musiker geworden sein.“ Doch war er letztendlich nicht beides? Der Nürnberger Meistersinger Hans Sachs nannte Luther die „Wittenbergische Nachtigall“ und in seiner „Vorrede auf alle guten Gesangbücher“ reimte der 1538: „Vor allen Freuden auf Erden / kann niemandem eine schönere werden, / denn die ich geb‘ mit meinem Singen / und mit manchem süßen Klingen. / Hier kann nicht sein böser Mut, / wo da singen Gesellen gut. / Hier bleibt kein Zorn, Zank, Hass noch Neid; / weichen muss alles Herzeleid. / Geiz, Sorg‘ und was sonst hart anleit‘ / fährt hin mit aller Traurigkeit.“

Diese Meinung teilten Generationen von Komponisten nach ihm. Einer davon war Johann Sebastian Bach, der sich auch sicher war: „Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott in seiner Gnadengegenwart.“ Vorgänger im Geiste waren hier neben Heinrich Schütz Johann Pachelbel, Melchior Frank, Leonhard Lechner, Johann Eccard, Hans-Leo Haßler oder Johann Staden. Selbstverständlich war ihr Wirken geprägt von den musikalischen Stilrichtungen ihrer Zeit, doch ihre Musik und das „Singen als Motor der Reformation“, wie es der Autor Andreas Hillger formuliert, gab der Bewegung eine gewaltige Schubkraft.

Glaubenslehre und Bildungsauftrag
Die geistliche Musik jener Tage ist Glaubenslehre und -übung sowie Bildungsauftrag zugleich und darüber hinaus Pflege einer musikalisch-geistlichen Tradition, die ihre Wurzeln in den Hymnen der Frühzeit und den Psalmen des Alten Testaments hat. Das Lernen und Singen von Chorälen sollte damals wie heute dazu beitragen, die Grundlagen des christlichen Glaubens zu vermitteln. Dadurch bekam das Volk die Möglichkeit, aktiv am gottesdienstlichen Geschehen teilzuhaben, als Anleitung und Hilfe zum Gebet. Auch heute noch festigt das gemeinsame Hören und vor allem Singen geistlicher Lieder die christliche Gemeinschaft.

Was hier ganz logisch klingt, war in der Zeit Luthers jedoch alles andere als selbstverständlich: 1435 hatte das Basler Konzil untersagt, im Gottesdienst Lieder in der Muttersprache zu singen! Bislang existierte die Tondichtung als „musica reserva“, als nur einem kleinen Kreis von Verständigen, der Geistlichkeit, den Kantoren und Chorsängern, vorbehaltene Kunst. Luther hingegen postulierte die Idee der singenden Volkskirche, in der nicht nur das durch seine Bibelübersetzung allgemeinverständliche Wort Gottes zu hören sein sollte, sondern auch der Gesang der Gemeinde.

Mündige Gemeinde
1524 schrieb er in seiner Vorrede zum Wittenberger Chorgesangbuch: „Dass geistliche Lieder zu singen gut und Gott wohlgefällig ist, denke ich, sei keinem Christen verborgen, da doch jedem nicht nur das Beispiel der Propheten und Könige im Alten Testament (die mit Singen und Klingen und Dichten und allerlei Saitenspiel Gott gelobt haben), sondern auch dieser Brauch selbst, besonders im Psalm-Gesang, der ganzen Christenheit von Anfang an bekannt ist.“ Luther orientierte sich also an der biblischen Ahnengalerie, als er sich daran machte, die Liturgie der Messe für eine mündigere Gemeinde zu reformieren und „deutsche Psalmen“ schuf, um das Wort Gottes auch durch den Gesang unter die Leute zu bringen. 1523 hatte er den Cantus „Ein neues Lied heben wir an“ geschrieben, ein Jahr später lag das erwähnte Chorgesangbuch mit 38 Liedern vor, die meisten davon auf eigene Texte.

Denn darum ging es Luther: Nicht die Noten, sondern der Wortlaut und damit die Botschaft sollten verändert werden. „Darum haben wir solche abgöttischen, toten und tollen Texte entkleidet, ihnen die schöne Musik abgestreift und sie dem lebendigen, heiligen Gotteswort angezogen, es damit zu singen“, schrieb er 1542. Singen als „gesteigertes Sprechen“ ist für Andreas Hillger „ein besonderes Medium der Gemeinschaft – und knüpft trotz seiner Flüchtigkeit zugleich ein festes Band durch die Zeiten“. Wann und wo immer ein Lied wie ‚Erhalt uns Herr bei deinem Wort‘ angestimmt würde, schwinge darin über den Moment des Singens hinaus Rezeptionsgeschichte mit. Hier werde das Lied „zum Echo-Raum und zum Erkennungszeichen evangelischer Tradition“ – auch und gerade durch wechselnde Melodien, die Zeitgeschmack und Kompositionsstile der jeweiligen Epochen abbilden.

Konfessionelle und politische Propaganda
Besonders gut lässt sich das an eben diesem Choral ablesen, den Luther „wider die zween Ertzfeinde Christi und seiner heilgen Kirche“ verstanden wissen wollte: „den Bapst und die Türcken“. Im Laufe der Zeit kam es bei der zweiten Zeile „und steu’r des Papst und Türcken Mord“ immer wieder zu Abänderungen, bis zur im heutigen Gesangbuch abgedruckten Variante „und steure deiner Feinde Mord“. Luthers Lieder waren eben auch konfessionelle und politische Propaganda – nicht umsonst nannte Heinrich Heine „Ein feste Burg ist unser Gott“ die „Marseillaise der Reformation“.

Die Lieder auf den Straßen wurden damals oft nach Melodien von Kirchenchorälen gesungen – und umgekehrt, was die Reformatoren und späteren Liederdichter nutzten. So basierten unter anderem 1647 Paul Gerhardts „Nun ruhen alle Wälder“ oder 80 Jahre später in Bachs Matthäuspassion der Choral „Wer hat dich so geschlagen“ auf der Melodie des um 1495 entstandenen „Innsbruck, ich muss dich lassen“ von Heinrich Isaac. Die gesungenen Gedanken nahmen so ihren Lauf und Luther freute sich über die Verbreitung der Lieder, auch wenn er 1529 aufgrund mancher undifferenzierten Hinzudichtungen so etwas wie ein Copyright verhängte und bat „alle, die das reine Wort liebhaben, sie möchten dieses unser Büchlein hinfort ohne unser Wissen und Wollen nicht mehr verbessern oder erweitern“.

Blüte des geistlichen Lieds
Die reformatorische Bewegung ließ also das geistliche Lied erblühen und der Choral übte auf Komponisten und Musiker eine große Faszination aus – vor allem auf jene, die als Kantoren im Rahmen ihrer gottesdienstlichen Pflichten mit dem Kirchenlied umgingen. Bei kompositorisch talentierten Organisten führte das nicht selten dazu, dass aus dieser Inspiration durchaus virtuose Werke entstanden. Diese Entwicklung zieht sich wie ein klingender Lichtstrahl durch sämtliche Epochen und fällt dabei auf das Kantaten- und Oratorienwerk Bachs, auf die „Reformationssinfonie“ oder den „Lobgesang“ von Felix Mendelssohn Bartholdy.

Eines anderen großen Komponisten, der ebenfalls ein glühender Lutheraner war, gedenkt die Musikwelt derzeit in seinem 250. Todesjahr: Georg Philipp Telemann, unter anderem Herausgeber des 433 Choräle umfassenden „Fast allgemeinen evangelisch-musicalischen Liederbuchs“. In der Motette auf „Ein feste Burg ist unser Gott“, die er 1730 zum 200. Jahrestag der Augsburger Konfession schrieb, vertonte er ein Bekenntnis, das seit dem 17. Jahrhundert das Geburtshaus des Reformators in Eisleben schmückt: „Gottes Wort und Luthers Lehr vergehet nun und nimmermehr.“ Dafür haben in den 500 Jahren, die seit dem Thesenanschlag am Tor der Wittenberger Schlosskirche vergangen sind, auch nach Telemann unzählige Komponisten gesorgt: Ohne die Musik, ohne Luthers Lieder wäre die Reformation vermutlich gescheitert.

Im Vorfeld der 500-Jahrfeier der Reformation sowie im Jubiläumsjahr 2017 sind zahlreiche CD-Einspielungen erschienen, von denen hier einige besonders empfohlen seien:

1517 – Mitten im Leben [Carus 83.477]
Was bewegte die Menschen im Jahr des Thesenanschlags? Dieser Frage geht die gemeinsame Produktion des renommierten Calmus Ensemble und der Lauttencompagney Berlin unter der Leitung von Wolfgang Katschner nach: Unglaublich lebendig musizieren sie Lieder und Texte aus dieser Zeit. Es geht um Glauben, Liebe, Krieg, das liebe Geld und einen gehörnten Ehemann – Themen, die so gestrig also gar nicht sind.

Martin Luther – Ein feste Burg ist unser Gott [Rondeau, ROP6074]
In allen Zeiten wurden Luthers Texte und Choräle von Musikern be- und verarbeitet. Der Kammerchor der Frauenkirche Dresden und Instrumenta Musica unter der Leitung von Matthias Grünert stellen mit Meistern des 16. und 17. Jahrhunderts verschiedene Spielarten dieser Lieder vor: als Choralsatz, Motette, Geistliches Konzert oder Orgelchoral, thematisch zu klingenden Andachten zusammengefasst.

Luther tanzt [sony/dhm, 88985305282]
Auch diese CD dokumentiert den Einfluss, den Luther auf die Lieder und Choräle seiner Zeit hatte. Selbst Flöten- und Lautenspieler war der Reformator für spätere Generationen Vorbild und prägte so den protestantischen Choral. Das Ensemble „The Playfords“ zeigt auf unvergleichlich frische Art den fröhlichen und tänzerischen Charakter dieser Kirchenlieder – musikalisch feinsinnig und mit Lust an der Improvisation.

Luther und die Musik [christophorus, CHR 77403]
Ein Panorama musikalischer Farbpracht: Auf acht Musik-CDs (und einer mit von Gert Westphal deklamierten Luther-Texten) nimmt dieses Kompendium den Zuhörer mit auf eine spannende Reise durch die Musik aus mehr als 150 Jahren Reformationsgeschichte. Interpreten sind u.a. die Ensembles Stimmwerck und chant 1450, das Johann-Rosenmüller-Ensemble, Franz Vitzthum (Altus) und Julian Behr (Laute).

Luthers Lieder [Carus/edition chrismon, 83.469]
Alle 35 Luther-Lieder wurden hier erstmals auf einer Doppel-CD eingespielt und erklingen, gesungen vom Kammerchor Stuttgart und dem Athesinus Consort Berlin, in Chorsätzen und Choralkantaten vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart sowie Choralbearbeitungen für Orgel. Ein umfangreiches Textbuch enthält zu ausgewählten Liedern Meditationen u.a. von Margot Käßmann und Frank Walter Steinmeier.

Georg Phillipp Telemann: Luther-Kantaten [cpo, 777 753-2]
Georg Philipp Telemann war überzeugter Protestant, dem es bei der Textauswahl für seine Werke nicht nur auf die dichterische, sondern auch auf die inhaltlich-auslegende Qualität ankam. In den hier eingespielten Kantaten beleuchten Solisten, das Bach Consort Leipzig und das Sächsische Barockorchester unter der Leitung von Gotthold Schwarz die wichtige Rolle der symbolisch bedeutungsgeladenen Lieder Luthers.

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