Proviant für die Geistesnahrung
In der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt steht ein trutziges Gebäude aus rotem Sandstein. Und damit ist nicht der Dom gemeint: Unweit des Mainzer Unterhauses steht das Proviant-Magazin. Im 19. Jahrhundert erbaut diente das siebenstöckige Gebäude als Teil der Mainzer Festungsanlagen zum Lagern von Vorräten für das Militär. Im Parterre residiert heute allerdings eine zutiefst zivile und pazifistische Einrichtung: das Deutsche Kabarettarchiv. Und statt Kornvorräten hortet man hier Stoff für die geistige Nahrung.
Es wird gesammelt, gesichtet und sortiert – quasi als kollektives Gedächtnis der Kleinkunst. Auf der einen Seite will man der Nachwelt einen Überblick über die Geschichte von Kabarett, Kleinkunst und Satire geben. Andererseits beweist man mit Ausstellungen und einem eigenen Veranstaltungskanon aus Konzerten, Lesungen und Vorträgen, dass gerade das Kabarettarchiv weit mehr ist als eine Sammlung staubiger Leitzordner mit vergilbtem Witz von Gestern und Vorgestern.
Gegründet wurde das Deutsche Kabarettarchiv vor 60 Jahren. Und am Anfang stand ein Name: Reinhard Hippen. Der 1942 in Leer geborene Grafikdesigner brannte für das Kabarett: Mit 14 Jahren ergatterte er nach einem Auftritt ein Autogramm von Hanns Dieter Hüsch – zusammen mit einem Programmheft des Studentenensembles „Die Amnestierten“ bildete es den Grundstein für seine Sammlung, aus dem das heutige Kabarettarchiv erwuchs. Unermüdlich heftete Hippen bald Manuskripte, Briefe und Zeitungsberichte ab, schnitt Programme mit dem Tonband mit. Tagsüber arbeitete er als Grafiker, nachts archivierte er. Das erforderte immer wieder Umzüge, denn die jeweiligen Wohnungen platzten bald aus allen Nähten. Hippens Schaffen blieb in Mainz nicht unbemerkt: Er bekam Räumlichkeiten, vom Land Rheinland-Pfalz gab es Zuschüsse. Was ebenfalls nicht unbemerkt blieb: Statt Steuern zu zahlen, steckte Hippen all seine Einkünfte in das Archiv. 1988 wurde seine Sammlung daher von der Staatsanwaltschaft konfisziert, es kam zum Zwangsverkauf an die Stadt Mainz. Um den Fortbestand der Sammlung zu sichern, wurde zehn Jahre später die Stiftung Deutsches Kabarettarchiv ins Leben gerufen.
Heute stehen dieser Stiftung die Mainzer Kulturdezernentin Marianne Grosse, der frühere Kulturstaatssekretär des Landes Rheinland-Pfalz Walter Schumacher, Monika Fuhr, stellvertretende Leiterin der rheinland-pfälzischen Landesvertretung in Berlin, Paul P. Koller als Kulturdezernent der Stadt Bernburg und der frühere Mainzer Oberbürgermeister Hermann-Hartmut Weyel vor. Finanziert wird die Arbeit vom Land Rheinland-Pfalz, den Städten Mainz und Bernburg sowie durch projektbezogene Zuwendungen des Bundes.
Mittlerweile hält man weit über 30000 Bücher zum Thema Kabarett vor: Anthologien, Biografien und Monografien, Zeitschriften und Magazine aus den Bereichen Satire, Humor, Kabarett, Kleinkunst, Karikatur, Chanson und Lied sowie Theater- und Zeitgeschichte. Der umfangreichen Bibliothek steht eine ergiebige Audiothek gegenüber: mit rund 25000 Tonträger verschiedener Formate von Schellack- und Tonbandaufnahmen über Platten und Kassetten bis zur CD mit Programmmitschnitten, Portraits und Features. Auch liegen in Mainz die kompletten Tonarchive der Münchner Lach- und Schießgesellschaft sowie des Unterhauses.
Hier sind die Großen in Ton und Bild versammelt, darunter der bereits erwähnte Hanns Dieter Hüsch, Jürgen von Manger, Werner Finck oder Willy Rosen, deren Nachlässe hier komplett oder in Teilen einsehbar sind. Doch finden sich auch viele Unbekannte und vor allem die Namen derjenigen, die hinter der Bühne oder im Schatten der Scheinwerfer standen: Texter wie Manfred Barzt, Horst Heller oder Klaus Peter Schreiner, Komponisten wie Berty Corazolla oder Walter Kabel, Theoretiker wie Heinz Greul oder Guy Walter. Dokumentiert ist auch das Schaffen der vielen großen und vor allem auch kleinen Bühnen, fast 40 an der Zahl.
Mehr als 4500 Videokassetten verschiedener Formate und DVDs präsentieren über 13000 Programm-Mitschnitte, Porträts, Filme, TV-Serien, Kabarett- und Satiresendungen sowie Dokumentationen. Eine Sammlung von Plakaten – rund 20000 Stück an der Zahl – gibt außerdem einen Überblick über die Entwicklung der Grafik sowie den jeweiligen Geschmack der Zeit, in der für Vorstellungen und Festivals im 19., 20. und 21. Jahrhundert geworben wurde. In rund 6000 Mappen finden sich Unterlagen zu mehr als 80000 Namen und Begriffen – Briefe, Fotos, Programmhefte, Typografien, Manuskripte, Textbücher sowie Presseberichte und Kritiken bis hin zu Examensarbeiten und Dissertationen. Eine umfangreiche Materialiensammlung zur theoretischen Forschung, zu Formen der Szene, Festivals, Gastspielbühnen, Kleinkunstpreisen, Mimen, Regisseuren, Redakteuren, Sängern, Tänzern, Liedermachern, Komponisten und Textern aller Geschlechter runden die Archivalien ab.
Parallel zum Kabarettarchiv in Mainz arbeitet in Bernburg an der Saale eine Außenstelle: In der einstigen Residenzstadt hat das „Ost-Pendant“ seinen Sitz und kümmert sich um die Aufarbeitung eines wichtigen Teils der DDR-Geschichte, die ein wenig Farbe in den grauen DDR-Alltag brachte: Die dortige Kabarettlandschaft zeichnete sich vor allem durch 15 Berufskabaretts – dreimal mehr als in der damaligen BRD – und zwischen 500 und 600 Amateurensembles aus. Solisten wie im westdeutschen Kabarett waren jenseits des eisernen Vorhangs eher die Ausnahme. Auch in Bernburg ist in zahlreichen Ordnern alles über Kabaretts, Autoren, Schauspieler, Musiker, aber auch kulturpolitische Themen aus der DDR-Zeit zu finden.
Seit 2019 ist Martina Keiffenheim Leiterin des Mainzer Archivs. Und sie kennt sich aus mit dem Genre Kabarett und Kleinkunst: Lange Jahre war sie mit ihrem Mann Martin auch selbst Veranstalterin und unterhielt mit der KleineKUNSTBÜHNE im rheinhessischen Saulheim ein kleines, aber feines Kabaretttheater, in dem namhafte Künstlerinnen und Künstler immer wieder gerne zu Gast waren. Private wie berufliche Pläne des Paares führten schließlich zum Verkauf des Anwesens und zur Schließung der Bühne. Dem Kabarett aber ist Keiffenheim aber treu geblieben und nutzt ihre vielfältigen Verbindungen in die Szene nun, um das Deutsche Kabarettarchiv in die Zukunft zu führen. Und für die, erklärt sie, hat man einen bestimmten Plan: Das Archiv soll lebendiger werden. Daran arbeitet ein ganzes Team: Mit Nicole Roth teilt sich Keiffenheim die Geschäftsführung; außerdem mit an Bord: Marion Meisenzahl (Rezeption und Verwaltung), Hagen Bulwan (Projektbeauftragter Bernburg), die Archivare Matthias Thiel und Marcel Fromme sowie Irmgard Haub (Digitalisierung Dokumente), Erhard Batka (Medien-Digitalisierung und Kameramann) und Jürgen Haller (Veranstaltungstechnik).
Blicken wir doch mal Matthias Thiel einen Augenblick über die Schulter: Gerade hat er den Nachlass des im April 2019 verstorbenen Mainzer Kabarettisten Herbert Bonewitz auf dem Tisch, dicke Ordner mit Texten, abgelegt nach Themen. Für das Archiv sortiert Thiel alphabetisch. Ob er die Sachen auch liest, die er da archiviert? „Dann käme ich ja zu nichts mehr“, schmunzelt er. Also wird quergelesen. Anders verhält es sich bei Audiobeiträgen, die werden ganz gehört. Im Fall Bonewitz sind das Tonkassetten [sic!] mit Programmmitschnitten; zuweilen hatte der Kabarettist daheim „trocken“ gespielt und sich dabei aufgenommen, bevor er mit seinen Witzen ein Publikum im Unterhaus oder bei Firmenfeiern begeisterte.
Thiel kümmert sich jedoch weniger um den geistigen als vielmehr um den bildhaften Inhalt der Nachlässe. Und da stößt er zuweilen auf Kuriositäten: zum Beispiel auf Tour-Tagebücher, in denen eine Kabarettgruppe in den 1960er-Jahren auf die Sozialdynamik eines Kleinkunstensembles auf Reisen einging. Anhand von Notizen und Markierungen könne man oft sehen, wie ein Kabarettprogramm entstanden sei, erzählt Thiel. Bei Hanns Dieter Hüsch hatte er einmal entdeckt, dass dieser eine Nummer aus einem älteren Programm ausgeschnitten und in ein aktuelles eingeklebt hatte – damals hinterließen Schere und Uhu ihre Spuren, heute erledigt das „copy & paste“. Die Archivare haben gut zu tun: Im Außenlager in Sulzheim stehen noch Kisten und Kästen, deren Inhalt gesichtet und sortiert werden will.
Immer wieder melden sich Germanisten, Historiker, Sozial- oder Theaterwissenschaftler, die Fragen haben oder nach Texten und Zusammenhängen suchen. Via „Findbuch“ kann man zuvor auf der Homepage des Archivs den Bestand prüfen. Archivalien dürfen dann allerdings nur vor Ort eingesehen werden – ausgeliehen wird nichts, wohl aber auf Wunsch und gegen geringe Gebühr fotokopiert. Außerhalb des Archivs verweisen nicht nur neue Stadtwegweiser auf seine Existenz: Auf dem Mainzer Romano-Guardini-Platz liegen den Passanten mit den „Sternen der Satire“ buchstäblich über hundert Jahre Kabarettgeschichte zu Füßen. Waren es bislang nur Namen, die man kannte (oder eben auch nicht), kann man ihnen nun virtuell begegnen: Am Edelstahlstern in der Mitte befinden sich Tafeln mit QR-Codes, durch die man sofort auf die der entsprechenden Seiten des Archivs geleitet wird, wo man dann Fotos, Informationen und zahlreiche Hörbeispielen zu den jeweiligen Künstlern findet.
Wichtig ist den Verantwortlichen vor allem, dass das Archiv offen ist. Dafür stehen vor allem eigene Veranstaltungen und Ausstellungen. Bis Juni 2022 ist vor Ort aktuell „Kabarett ± Malerei ± Meer“ zu besichtigen. Martina Keiffenheim erklärt: „Mainz liegt am Rhein und der mündet in die Nordsee; doch nicht nur dort, auch hier, im Archiv herrscht kein musealer Stillstand, ist alles im Fluss.“ Was man entdecken könne, sei Vielfalt und Vielfältigkeit: „Es gibt faszinierende Doppelbegabungen.“ Da sind der Dichter und Maler Joachim Ringelnatz und der Dramatiker Wolfgang Borchert, der neben seinem berühmten Stück „Draußen vor der Tür“ auch wunderbare Gedichte verfasste, zeichnete und in seinem leider viel zu kurzen Leben sogar seine kabarettistische Ader entdeckte und auslebte. Die Kabarettistin und Autorin Helene Bockhorst malt Fische, um sich zu beruhigen. Ihr Kollege Matthias Egersdörfer hat Kunst studiert und bringt seine Gedanken auch mit kraftvollem Strich aufs Papier. Die Chanson-Poetin Kristin Bauer-Horn, die von 1964 bis 1969 als eine der wenigen Frauen beim legendären Open-air-Festival auf Burg Waldeck auftrat, studierte ebenfalls Kunst – einige Originale sind derzeit in der Ausstellung „Kabarett ± Malerei ± Meer“ zu sehen. Und schließlich ist da noch der Kabarettist Dirk Langer, der als musizierender Seefahrer „Nagelritz“ mit seinen „Bullaugenblicken“ gemaltes Seemansgarn erzählt.
Auf diesem imaginären Fluss aus gemalter und gesprochener Kunst begegnet man also lebendigen und verstorbenen Künstlern. Und genau darum geht es Martina Keiffenheim und ihrem Team auch bei dem, was das gesamte Archiv beinhaltet und darstellt: „Wir wollen, dass die Lebenden mit den Toten über ihr jeweiliges Medium in Verbindung treten, dass sie sehen, was die gedacht und gemacht haben und dabei sicherlich auch viel Neues entdecken, unterhalten und gerührt werden.“
Weitere Informationen zum Archiv und seinem Veranstaltungsprogramm finden sich hier: https://www.kabarett.de