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Erregung öffentlichen Amüsements

MAINZ (5. Februar 2020). Erinnert sich noch jemand an die 1994 von der rheinland-pfälzischen Landesregierung – seit drei Jahren stellte die SPD erstmals den Ministerpräsidenten – herausgegebene Aufklärungsbroschüre „Let’s talk about sex“? Die CDU sprach damals von Pornographie – heute würde das harmlose Heftchen keines Blickes mehr gewürdigt. Doch trotz der nicht nur in der Werbung omnipräsenten Körperlichkeit gilt für Sex irgendwie immer noch das Gleiche wie bei Geld: Hat man, spricht aber nicht drüber.

Ganz anders sieht das die Kabarettistin Helene Bockhorst und zeichnet in ihrem Programm „Die fabelhafte Welt der Therapie“ ein Frauenbild, das als Selbstportrait Funken schlägt. Sex sells – offensichtlich auch im gut besuchten Unterhaus, dessen Besucher sich ganz ohne Hemmungen an diesem Kokettieren ergötzen. Derartige Tabubrüche sind zwar nicht neu, doch einen ganzen Abend unter der Gürtellinie zu spielen erfordert – in Zeiten von #MeToo und für eine Frau – schon Mut.

Den hat Bockhorst und berichtet von einer schweren Kindheit („Mein Vater war nie da und hatte deshalb gar keine Zeit mich zu schlagen, das machte dann meine Mutter.“), die sie bald in die Promiskuität zwang: „Ich bin jetzt 32 und zwei Drittel meines Lebens hatte ich keinen Sex.“ Laut eigener Hochrechnung waren es bislang dann doch 1200 Geschlechtsakte und der Abend sei ja noch nicht zu Ende. Dass man tatsächlich nicht genau sagen kann, was hier Wahrheit und was Fiktion ist, hat seinen ganz eigenen, prickelnden Reiz.

Die Hamburgerin erzählt mit leicht gedrückter Stimme, intoniert ohne große Amplituden. Das steht natürlich im krassen Gegensatz zum Inhalt – wie das eher züchtige Erscheinungsbild der attraktiven Künstlerin zu ihrer Leggins in metallic-grün. Exhibitionismus, Brustwarzenpiercing, Beziehungen mit unterschiedlichen sexuellen Präferenzen, Selbstbefriedigung, Depression – ganz offen und ohne peinliche Momente spielt „Die fabelhafte Welt der Therapie“ mit Komponenten von Siegmund Freuds Psychosexualität und spricht offen aus, was man selbst vielleicht nur verschämt ins Kissen einer Psychologencouch murmeln würde.

Dieses Kabarett ist erlösend, denn es zieht seinen Witz aus dem Spiel mit dem Tabu und nicht aus plakativer Obszönität. Letztendlich geht es einem wie dem Zuschauer des Spielfilms „Auserwählte“, der 2013 den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule thematisierte und alles zeigte, ohne etwas explizit abzubilden. Ulrich Tukur, der den verbrecherischen Schulleiter gab, sagte damals, man spiele mit der schmutzigen Phantasie der Zuschauer. Nichts anderes macht Helene Bockhorst – ein frivoler Flirt ganz ohne Gewissensbiss.

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