Bröckelnde Gewissheiten
MAINZ (9. November 2023). Das neue Programm von Christian Ehring, so wird vor Beginn der Veranstaltung im restlos ausverkauften Unterhaus gewarnt, enthalte anstößige Begriffe. Zum Beispiel Kadaverkotze. Oder Friedrich Merz. Und Ehring liefert: nicht nur hier, sondern ganz allgemein erneut einen faszinierenden Abend voller humoriger An- und abgründiger Einsichten. „Stand jetzt“ heißt sein neues Programm.
„Stand jetzt“ – eine beliebte Floskel im Jargon der Nachrichtensprecher und Reporter: Man muss auf Teufel komm raus berichten, auch wenn es noch nichts Greifbares gibt. Dass da die Satire als Just-in-time-Produkt kaum mehr hinterherkommt, ist klar. „Ich bin durchaus spontan“, beteuert Ehring: „Aber ich brauche Zeit.“ Die hat sich der zuletzt 2019 mit dem Deutschen Kleinkunstpreis geadelte Kabarettist genommen und einer grandiosen Nabelschau unterzogen.
Er sei „innerlich aufgeraut“, bekennt Ehring und singt am Klavier einen Hoffnungsschimmer („Woher auch immer …“) herbei. Der kommt im Leben seiner Bühnenfigur von nebenan, denn dort wohnen Shanti und Rolf, zwei gescheiterte Existenzen, die sich nun als Coaches verdingen und anderen zur Work-Life-Balance verhelfen wollen – samt richtigem Wording für das korrekte Mindset und anschließendem Learning: „Lass das Glück die Benchmark Deiner Träume sein.“ Richtig atmen, bewegen und ernähren, alles garniert mit passenden Kalendersprüchen. Nicht nur Ehring wird davon übel.
Der Abend pendelt gekonnt zwischen satten Sottisen und Erkenntnissen, wofür der Künstler in früheren Tagebüchern und zwei Kladden blättert: In die eine kämen Post-its mit Überzeugungen, in die andere mit Ansichten, die es zu überdenken gelte. Dieser Tage wechselten die Klebezettel immer wieder ihren Haftgrund, denn zu viel komme ins Wanken. Früher hätte er den Kriegsdienst verweigert, erinnert sich Ehring: „Aus Überzeugung.“ Heute würde er das wieder tun: „Allerdings aus Angst.“
Eigene Überzeugungen prallen auf die Wirklichkeit und werden von der Aktualität pulverisiert. Die Erkenntnis, dass man angesichts der hektischen Nachrichtenlage kaum mehr ein haltbares Programm machen kann, dreht Ehring in „Stand jetzt“ elegant auf links und spielt mit vermeintlichen Gewissheiten als Work in progress. Männer arbeiten effizienter als Frauen? Auf den glucksenden Protest aus dem Publikum reagiert er mit Zahlen: „Frauen nehmen im Schnitt 14,5 Monate Elternzeit – und Männer schaffen das in dreieinhalb.“
Ehring arbeitet sich an der Aktualität ab, ruft beim Gendern zu mehr Toleranz auf, beäugt kritisch übertriebene Hundeliebe oder Attacken auf Sanitäter und empfindet sogar Mitleid mit Olaf Scholz, in dessen Haut er nicht stecken möchte. Warum der zögere, Waffen an die Ukraine zu liefern? Vielleicht habe er Angst, dass Putin das als deutschen Kriegseintritt sehe – oder das drohende Versagen deutscher Militärtechnik sei ihm einfach zu peinlich. Klar sollte man irgendwann an den Verhandlungstisch. Aber müsse man dort alles tun, damit Putin sein Gesicht wahren könne? „Sind wir für Putins Gesicht zuständig? Wenn es nach mir ginge wären das die Klitschko-Brüder.“
Es geht um richtig und falsch und darum, sich selbst immer wieder zu hinterfragen. Ein weiteres Lied des Abends besingt die Resilienz, also die Fähigkeit, mental mit Krisen umzugehen. Das jedoch, argwöhnt Ehring, dürfe einen nicht davon abhalten, gegen Missstände anzukämpfen, anstatt sich mit ihnen zu arrangieren. Bei aller guten Laune gelingt es ihm immer wieder, für betretenes Schweigen im Publikum zu sorgen. Das aber ist ob der gerade gewonnenen Erkenntnis nicht peinlich, sondern ehrlich berührt. Und darf über die nächste Pointe doch gleich wieder befreit lachen.
Christian Ehrings neues Programm „Stand jetzt“ unterscheidet sich von seinen Vorgängern in der Stringenz des Erzählten. Waren es vorher kleine Welten, in denen sich der Künstler thematisch bewegte, ist es nun ein Abhaken einzelner Aspekte der schnelllebigen Zeit. Aber auch das gelingt: mal mit schneller Pointe, die eher die Oberfläche touchiert, mal mit hintergründigem Humor, der in die Tiefe dringt und das Publikum dort kitzelt, wo es wehtut.