Wenn die Realität die Satire schlägt
MAINZ (2. Dezember 2019). Christine Prayon traut sich was: Nicht nur in der heute-show als Birte Schneider, auch auf der Bühne spricht sie klare Worte, zeigt Kante und Kontur. Das hebt sie wohltuend ab und brachte ihr 2012 den Förderpreis zum Deutschen Kleinkunstpreis ein; nur zwei Jahre zuvor hatte sie mit „Die Diplom-Animatöse“ ihr erstes Soloprogramm präsentiert. Der Titel ihres zweiten klingt indes beunruhigend: „Abschiedstour“.
Und tatsächlich: Zu Beginn monologisiert Prayon darüber, dass es keinen Sinn mehr mache, Kabarett zu spielen. In Zeiten, in denen die Realität jede Satire überträfe, sei ihr die Lust am Spiel abhandengekommen. Womit sie nicht alleine wäre: Auch der großartige Volker Pispers, einer der Schärfsten und Klügsten seiner Zunft, tritt aus denselben Gründen tatsächlich nicht mehr auf. So weit ist es bei Prayon zum Glück dann doch noch nicht.
Ihr Spiel braucht nicht zwingend Pointe oder Szenenapplaus, um seine Wirkung zu entfalten. Zu Beginn dehnt sie den Spannungsbogen fast über Gebühr, als sie von dem Wunsch nach alternativen Lebensentwürfen und gesellschaftlicher Transformation erzählt. Das Utopia einer Gemeinschaft, in der keiner mehr auf Kosten des anderen lebt, ist für sie kein Fernziel, sondern der Weg dorthin. Angespannte Stille im Unterhaus – wie seinerzeit bei Hanns-Dieter Hüsch.
Hier lässt sich Prayon auch nicht von der Mainstream-Meinung beeinflussen, der Mensch sei dem Menschen doch eher ein Wolf und derartiges Miteinander realitätsfern. Ihr Kabarett liefert keine wohlfeilen Antworten, sondern stellt Fragen. Und ohne dass er zitiert wird, kommt einem der Satz in den Kopf: „Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin und keiner ginge um zu schauen, wohin wir kämen, wenn wir denn gingen.“
Und wohin kommt man, wenn alles so weitergeht wie bisher? Hier malt Prayon die Zukunft zwar unterhaltsam, aber auch düster: „Es macht keinen Sinn, wenn das Kabarett vor dem Faschismus warnt: Wir können nicht vor etwas warnen, was schon da ist.“ Soll man sich anpassen oder ergeben? Da steht der Krawallkomiker mit rechtem Humor neben der Nachrichtensendung der Zukunft, deren Bericht zum Klimagipfel einzig die Outfits der Teilnehmer behandelt – auch das ist heute übrigens zuweilen fast schon Realität.
Nein, soweit darf nicht kommen, erkennt auch Christine Prayon. Und dafür steht sie, seziert messerscharf die derzeitige Comedy- und Slam-Poetry-Welle oder fordert Kolleginnen auf, sich lauter als bisher zu Wort zu melden. Wenn sie dabei ihr Publikum mit allzu offenem Humor hörbar brüskiert, ist das für sie nur ein bewusster Kollateralschaden. Diese Frau gibt sich nicht mit den bestehenden Verhältnissen ab, sondern denkt und stellt sich quer – laut und deutlich. Auf ihren echten Abschied muss man daher hoffentlich noch lange warten.