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Bittere Erkenntnisse

MAINZ (16. September 2015). Als die erste Ausgabe der zuvor aufgezeichneten TV-Show „Mann, Sieber!“ im ZDF lief, hatte ein Teil des Kabarettisten-Duos, nämlich Christoph Sieber, gut zwei Stunden Live-Auftritt im Mainzer Unterhaus hinter sich: Der Künstler stellte sein aktuelles Programm „Hoffnungslos optimistisch“ vor.

Zeichnete er für das 3sat-Festival am Folgetag Teile daraus auf, gab es auf der Bühne die ungekürzte Version, nach der man eines wusste: Um jeden Gedanken, der für das Fernsehen aus Zeitgründen gestrichen werden muss, ist es schade. Denn Sieber ist einer der tiefgründigeren Kabarettisten, die sich nicht damit abfinden, unbequeme Wahrheiten zu schminken.

Das ist natürlich ein beachtlicher Balanceakt: Unterhaltsame Pointen auf der einen Seite, bittere Erkenntnisse auf der anderen. Sieber ist dafür bekannt, dass er die Stimmung im Auditorium wie eine Nussschale inmitten eines sturmumtosten Ozeans mal in die Höhe hebt, um sie gleich darauf wieder in die Tiefe zu reißen. In diesem Spannungsfeld vibrieren die Gedanken des Weltenbetrachters, der die Erwartungen seines Publikums kennt: „Bin ich zu lustig? Das ändert sich gleich wieder.“

Der offensichtliche Widerspruch im Programmtitel „Hoffnungslos optimistisch“ offenbart auch den Zwiespalt, in dem sich das Kabarett – und damit sein Protagonist – aktuell befindet: Spott in Richtung der Mächtigen reicht heute nicht mehr aus, denn ihre Abhängigkeit von der Wirtschaft schlägt unmittelbar auf jeden Einzelnen zurück. Bleibt also nur noch Galgenhumor?

„Angela Merkel präsentiert die Wirklichkeit, die sich die Menschen im Land wünschen“, hat Sieber beobachtet. Und die steht für: „Möglichst keine Veränderung.“ Angesichts der zuweilen barbarischen Gegenwart ist dies kaum machbar. Der Kabarettist zitiert Hölderlin, der in seinem „Hyperion“ die Deutschen 1798 beschrieb: „Ich kann kein Volk mir vorstellen, das zerrissener wär‘. Arme und Beine und alle Glieder liegen zerstückelt umher, während langsam dem Leib das Blut des Lebens auszufließen droht.“

Weit über 150 Tote durch Neonazis in unserem Land seit 1990, aber kein einziger durch den Islamismus. Trotzdem würden Ängste gepflegt, weil ein passendes Feindbild die eigene Weltsicht erträglich mache. Vergessen und Wegschauen erleichtere und rechtfertige die „deutsche Hausmeistermentalität: Das war schon immer so und das bleibt so.“

Starker Tobak eines Kabarettisten, den man leicht als „Gutmenschen“ abtun könnte? Mitnichten, denn Sieber weiß, dass beim ausgestreckten Zeigefinger drei Glieder auf einen selbst zeigen. Auch für diesen Zwiespalt steht „Hoffnungslos optimistisch“: Der Künstler selbst lebt weder in Wolkenkuckucksheim noch auf der Insel der Glückseligkeit.

Mit den beiden letzten Nummern, einem Appell gegen das Gewöhnen und einem attacca folgenden Loblied auf Globalisierung und Kapitalismus löst er sein anfangs gegebenes Versprechen ein: „Ich habe keine Antworten, aber einige gute Fragen.“ Mit ihnen darf sich das Publikum jetzt beschäftigen.

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