» Kleinkunst

Widersprüchliche Gegenwart

MAINZ (15. Februar 2019). „Geben Sie es doch zu: Sie wollen mich scheitern sehen“, sinniert Christoph Sieber zu Beginn seines Unterhaus-Gastspiels. Und beschreibt das Phänomen, das Unfall- und Rettungseinsatzgaffer an die Oberfläche des Bewusstseins gespült hat, ohne es beim Namen zu nennen. Siebers neues Programm heißt „Mensch bleiben“ – trotz aller Widersprüche, die unsere Gegenwart prägen.

Doch genau die werden ja von vielen abgelehnt: „Sie sehnen sich in eine Vergangenheit zurück, in der sie noch Zukunft hatten.“ Gestalten? Das hieße ja unter Umständen Veränderung: „Aber das wollen wir nicht, die anderen sollen sich ändern.“ Wenn Sieber ein Liegefahrrad sieht, dann ist das für ihn ein Sinnbild: „Im Liegen vorwärtskommen wollen.“

Ihm kommen hingegen Zweifel: „Aber wer zweifelt, will wissen.“ In den Talkshows gebe es aber nur Wissende. Die Lautsprecher aus Wirtschaft und Politik sind für Sieber die „Silberrücken der Neuzeit“. Auch hier vermeidet er es, Ross und Reiter zu nennen: Sein Kabarett ist politisch, gerade weil es auf offensichtliche Parteienschelte verzichtet. Für ihn teilt der gesellschaftliche Riss nicht in rechts und links, sondern in arm und reich: „Die Gier der einen ist größer als der Hunger der anderen.“ Da sei Solidarität doch eher „der Toast Hawaii unter den Werten“. Leuchtende Stilblüten in einem ansonsten dunkeln Sittenbild.

Schwarzmalerei also in einer Zeit, in der ohnehin nur das Negative wichtig ist? Sieber spricht von Inhaltsleere und stellt sie äußerst gekonnt mit einer Jonglage dar. Er lässt kein gutes Haar am Schlechten und weiß doch, wie schnell man selbst darin gefangen ist, weil man eben Mensch ist. „Mensch bleiben“ sieht aber noch eine weitere Ebene, auf der man sich der Strömung entgegenstellen muss. Denn sonst geht es einem wie in Siebers grandioser Adaption von Ludwig Hirschs apokalyptischem Song „Die gottverdammte Pleite“: Hier nun reißt ein Bagger einen Funkmast um und damit alle Handynetze ein – die Menschheit ist ruiniert.

Wie gewohnt spielt der Kabarettist mit der Stimmung im Publikum, auch wenn er die Amplituden diesmal nicht ganz so hoch ausschlagen lässt, wie man es aus früheren Programmen kennt. Trotzdem ist es wieder atemberaubend, wie er das schallende Gelächter von einem auf den anderen Moment in nachdenkliches Schweigen verwandelt, um es mit dem nächsten Gedanken wieder anzufachen.

Eine zynische Szene im Jobcenter und die bittere Erkenntnis, dass Angst zum Mittel der Politik geworden ist, Facebook und die an Amazon verkaufte Seele, der drohende Sieg der künstlichen Intelligenz über die menschliche Dummheit – man bekommt an diesem Abend viele Denkanstöße, wie man heute noch „Mensch bleiben“ kann. Mit seinem aufklärerischen und selbstbespiegelnden Humor öffnet Christoph Sieber das passende Ventil, um darüber nicht zu verzweifeln.

zurück