Durst ist schlimmer als Heimweh
MAINZ – Locker plaudert er sich in den Abend rein, „nimmt die Geschwindigkeit raus“, lädt unaufdringlich locker zu einem gemütlichen Abend ein: Wenn der Autor und Fotograf Jess Jochimsen sich auf sein kabarettistisches Standbein stützt, werden aus Mücken mühelos Elefanten und kleinste Begebenheiten erhalten plötzlich ein erdrückendes Gewicht.
„Durst ist schlimmer als Heimweh“ heißt das aktuelle Programm. Doch auch diesmal sind große Worte Jochimsens Sache nicht – er konzentriert sich aufs Subversive, bei dem man nicht immer weiß, ob Lachen die richtige Gefühlsäußerung ist. Wie immer gibt es „ einen depressiven Jahresrückblick, ein Lied mit Todesfolge und eine traurige Kurzgeschichte“ – dazwischen versteckt der smarte Kleinkünstler seine Pointen wie Ostereier: Wenn man sie findet, freut man sich von Herzen – und wenn man drauf tritt, tut es einem in der Seele weh.
„Alle 47 Minuten nimmt sich in Deutschland ein Mensch das Leben“, sinniert Jochimsen erschreckend aktuell im Hinblick auf den Suizid von Fußballer Robert Enke – aber alles andere als grenzwertig: Erwähnt wird die auch durch die Medien vertiefte nationale Betroffenheit mit keiner Silbe – und doch fragt man sich selbst unweigerlich, warum die anderen 29 Selbstmörder am Tag kaum Beachtung finden.
„Durst ist schlimmer als Heimweh“ ist ein semantischer Flickenteppich, dessen roter Faden die Fragmente immer wieder verknüpft. Lakonisch fragt Jochimsen: „Wenn sich 80 Prozent der Paare auf der Arbeit kennenlernen – was machen dann die, die keine Arbeit haben?“ Resigniert empfängt er den Wunschzettel seines Sohnes per Mail: „Vom Kinderzimmer ins Wohnzimmer!“ Oder er sinniert über den Leistungsdruck, der auf einem Max Strauß liegen mag. Ganz kurz wird er politisch – doch der Denkanstoß sitzt: „Menschen ja – aber Politiker?“
Hinter dem vitalen Spott des Kabarettisten spürt man das Fingerspitzengefühl, mit dem Jochimsen seine Themen auswählt: Im Affekt zugesagte Essenseinladungen bei Freunden sind Anlass für eine gesalzene Polemik zu den Themen der eigenen Generation und im Angesicht der aktuell leuchtenden Laternen gerät die Geschichte von St. Martin zum kapitalismuskritischen Rüffel Richtung New Economy: „Das Mantelzerteilen ist doch eine Demütigung des Armen durch den Reichen.“ Solche Gedanken sind klein, aber gemein.
Und dann sind da natürlich die anheimelnd anachronistischen Dias! Als Digitalverweigerer knippst sich Jochimsen noch immer analog durch die deutsche Landschaft und fokussiert mit einem untrügerischen Blick für das Absurde unfreiwillig Komisches: sich widersprechende Straßenschilder oder Wegweiser in die Vororte des Schwermuts wie die „Bar zur Hölle“ unter so ganz unfrivol beblümtem Fenstersims, Geschäfte wie den „Fachhandel für Senioren, Behinderte und Linkshänder“ oder das schlichte Gebot „Reserviert für Raucher – auch Damen“. Man könnte stundenlang zusehen und bekommt doch peinlichst den Spiegel vorgehalten – Jess Jochimsen kann dies auch gänzlich ohne Worte. Und damit gelingt ihm ein kabarettistischer Geniestreich.