Rabiate Parodien der Realität
MAINZ (7. April 2016). Unglaublich, aber wahr: Der 1978 geborene Kai Magnus Sting steht schon seit über 20 Jahren auf den deutschsprachigen Kleinkunstbühnen seinen Mann. Dabei wirkt er in seinem smarten Anzug doch immer jugendlich adrett – als hätte er erst gestern seine Lehre bei der örtlichen Sparkasse begonnen.
Doch der biedere Schein trügt: Unter dem gebügelten Hemd schlägt ein Herz, das für die Sprache glüht und durch die randlose Brille schauen zwei wache Augen in die Welt, um dem Publikum in faszinierenden Wortkaskaden von den Widrigkeiten des Lebens zu erzählen.
Nun ist Sting auch unter die Literaten gegangen, hat einen Krimi mit dem Titel „Leichenpuzzle“ geschrieben. Und das Buch „Immer ist was, weil sonst wär ja nix“. Hieraus trägt er an diesem Abend vor – keine Lesung, sondern Kabarett pur: Es geht um ungeliebte Fahrradtouren, Zahnarztbesuche, das Rezept für einen Nudelsalat und preisreduzierten Rhabarberkuchen. Herrlich, wie genau Sting beobachtet: Der Dialekt des Duisburgers gibt den Erzählungen einen Anstrich von rustikaler Realität, die Übertreibung den Drive, der joviale Witz eine Spannung zwischen Erheiterung und Selbsterkenntnis.
Dabei ist es fast egal, was Sting sagt – so, wie er es geradezu deklamiert, könnte er einem auch ein Telefonbuch vorlesen. Er steigert sich hinein in die Banalitäten des Lebens und wie er sie mit gedrückter Stimme und oft letztem Atem hervorpresst, ist ein Erlebnis. Und durchaus eine kleine Reminiszenz an den Kollegen Jochen Busse (übrigens einer von vielen, die in Stings humorigen Krimi-Hörspielen mitwirken): Schön, dass eine so markante akustische Geste weiter gepflegt wird. Verwandtschaft, Gesundheit, Ernährung – Sting erhebt selbst die kleinste Alltagsszene zu einer Heimsuchung biblischen Ausmaßes. Wo anderen ein Strichmännchen genügt, wird hier mindestens ein Hieronymus Bosch bemüht.
Dabei tut so ein Künstler bitter Not in Zeiten, in denen Einschläge buchstäblich immer näher kommen. Eine politische Botschaft gibt es nicht an diesem Abend, aber eine menschliche: Wer sich selbst allzu ernst und wichtig nimmt, wird schnell zur Witzfigur. Und die demaskiert Sting in galoppierendem Duktus und mit sprachlichem Hakenschlag. Dass er in diesen rabiaten Parodien der Realität fast immer mit- und selbst oft die Hauptrolle spielt, macht ihn umso sympathischer.
Sting kann aber auch mit Verve austeilen. In einem Standgericht urteilt er eine Sendung des Privatfernsehens nach der anderen ab: Topmodel, Superstar, gesuchte Schwiegertöchter, heiratswillige Landwirte, vermisste Verwandtschaft. Und so kommt man auch noch in den Genuss einer Medienkritik, die sich gewaschen hat. Der Künstler verspricht im Untertitel seines Buches „Mein Alltag in 33 Katastrophen“. An diesem Abend sind es sehr viel mehr. Und man selbst merkt, dass das eigene Leben wohl doch nicht ganz so schlimm ist.