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Ensemblekabarett wie ein Maßanzug

MAINZ (26. Januar 2024). Was ist nur los in der Welt, in Deutschland? Krisen und Kriege haben den Globus und das Land gespalten oder sind noch dabei. Was ist richtig, was falsch? Neue Gewissheiten konkurrieren mit alten Gewohnheiten. Da grenzte es ja fast an Arbeitsverweigerung, würde das Ensemble des Düsseldorfer Kom(m)ödchens diese Steilvorlagen nicht aufgreifen und ein weiteres Kabinettstück der Extraklasse aus dem Hut zaubern! Dietmar Jacobs, Christian Ehring und Martin Maier-Bode, der auch mitspielt, haben sich entsprechend inspirieren lassen und mit „Bulli – ein Sommermärchen“ Maike Kühl, Daniel Graf und Heiko Seidel (dessen Lachen man gerne als Handyklingelton hätte) ein Theater auf den Leib geschrieben, das keine Wünsche offen und dabei kein Auge trocken lässt.

Die Rahmenhandlug: Fünf Freunde – Lena und ihr Mann Jörg (Graf), Hajo (Maier-Bode) sowie Gunnar und Uwe (Seidel) – treffen sich traditionell an Lenas Geburtstag, um in der Garage vor dem alten Bulli, mit dem sie in bunter Vorzeit nach Portugal reisten, in Bier und vor allem Nostalgie zu baden. Doch in der Ehe kriselt es und Lena will mit dem mittlerweile auf Elektro umgerüsteten VW-Bus ausbrechen: aus der Ehe, der Gesellschaft. Denn was ist aus den gemeinsamen Utopien geworden? Gunnar investiert als Yuppie in Berliner Start-ups, genießt grenzenlose Freiheit und lässt sich gleichzeitig von seiner Apple-Watch sagen, dass er sich noch zu wenig bewegt hat; Jörg ist Steuerberater, Lena übersetzt Gebrauchsanweisungen, Hajo ist Rockbeauftragter des Kulturamts Dormagen und der von allen belächelte Uwe Ornithologe sowie in Angst um das letzte Haselhuhn.

Wunderbare Rollen also, eine tolle Geschichte und mitten drin das Kom(m)ödchen-Ensemble, dem die Spielfreude als allen Poren sprießt. Wie Seidel den oberflächlichen Gunnar und den verschrobenen Uwe spielt, Graf den kalten Realisten Jörg, Kühl die revoltierende Lena und Maier-Bode den träumenden Hajo geben, ist wirklich ganz großes Kino. Nicht nur, dass sich jeder Charakter trefflich in den anderen reflektieren kann: Auch man selbst blickt bei aller Übertreibung in jeden wie in einen Spiegel und sieht dort vielleicht ja eigene Meinungen, Ängste, Wünsche oder Überzeugungen. Die Truppe bringt das Stück seit bald zwei Jahren auf die Bühne, aber „Bulli“ schlägt noch immer kräftig Funken. Die Rollen sitzen wie Maßanzüge, die Dialoge zünden, das Stück ist aktueller denn je.

Beispiel Klimakrise: Keiner leugnet sie, aber jeder hat seinen Standpunkt – für Jörg ist das Kind sowieso in den Brunnen gefallen, weswegen er ein Umdenken für sinnlos hält, Lena will mit alten Gewohnheiten brechen, Gunnar ist in Berlin ohnehin schon weiter und Hajo setzt auf Protestsongs, die keiner hören will. Zwischen diesen Polen werden auch alle weiteren Themen verhandelt. Und das sogar buchstäblich: Tochter Jenni (sie studiert was mit untergehenden Völkern, aber nicht Ethnologie, sondern Niederländisch) steht auf Seiten der Letzten Generation, die die Menschheit auf hunderte Billionen Euro Schadensersatz verklagt hat. Die Bulli-Kulisse wird mit zwei Handgriffen zur Anklagebank, vor der Richter (Maier-Bode) und Staatsanwalt (Seidel) die vernichtenden Beweise aufnehmen.

Kleine Sketche in der großen Geschichte, gut platzierte Kalauer, geniale Ideen – in einer zweiten Verhandlung tritt Seidel als Immanuel Kant auf, der einen neuen kategorischen Imperativ fordert („Handele so, dass Du überall auf der Welt wiedergeboren werden wolltest.“) und muss sich ausgerechnet gegen Wolfgang Kubicki (Maier-Bode mit Baiser-Frisur) behaupten, der sich die drohende Klimakatastrophe gut gelaunt am Allerwertesten vorbeigehen lässt.

„Bulli“ lässt tatsächlich keine Sekunde Langeweile aufkommen, ist gewürzt mit tollen Songs von Christian Ehring, Jochen Kilian und Andreas Schnermann. Grandios auch die Szene, in der Stadt- und Landbevölkerung aufeinandertreffen und Kühn mit Graf das berühmte Gemälde „American Gothic“ des amerikanischen Malers Grant Wood auf die Bühne pinseln. Man könnte noch viele Absätze lang über einzelne Details schwärmen, die der Leser aber am besten selbst in einer der weiteren Vorstellungen von „Bulli“ in Düsseldorf oder auf Tour goutieren möchte.

Erwähnt sei noch der wunderbare Schluss: Das Ganze – die Verurteilung, das Stranden mit leerer Batterie im Wald und alles Weitere – ist (natürlich) eine Illusion, die Lena träumt. Sie wacht auf und freut sich über das Wiedersehen mit den Freunden am portugiesischen Strand. Als Conclusio greift das Ensemble dann aber die Idee des Schattenspiels vom Beginn auf, das nun aber (perfektioniert als wörtliches Zitat des Shadowland-Spektakels der Kollegen vom Tanztheater Pilobolus) erzählt, wo die Menschheit in ihrer Geschichte (offenbar chronisch) falsch abgebogen ist, jeder einzelne es aber noch immer in der Hand hat, dem eigenen Kompass in die richtige Richtung zu folgen. Dieses Theater im Theater rührt einen genauso tief, wie das vorherige Spiel die Lachmuskeln strapazierte. Nach zweieinhalb Stunden ist man daher nicht nur bestens unterhalten, sondern auch dankbar für die großartige Leistung dieser famosen Vier.

Man muss in den Annalen des Deutschen Kleinkunstpreises schon recht weit nach hinten respektive vorne blättern, um auf das Kom(m)ödchen zu stoßen: 1981 erhielt es die damals erst zehnjährige Auszeichnung als Ehrenpreisträger in der Rubrik Kabarett. Es wäre also durchaus mal wieder an der Zeit, dieses Ensemble (mit diesen Mimen!) aufs Schild zu heben. In Mainz gab es nach dem jüngsten Gastspiel dann aber etwas, das selbst beim begeistertsten Unterhaus-Publikum eher selten ist (und das daher auch bislang weitaus weniger Künstler bekamen als den Deutschen Kleinkunstpreis): Standing ovations. Selten waren sie verdienter.

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