» Kleinkunst

Merci pour ton accordéon

MAINZ (16. Mai 2025). Weht da ein leiser Hauch von Melancholie durchs Unterhaus? Schließlich heißt das Programm, das die Akkordeonistin Lydie Auvray an diesem Abend auf der in zeitweise bleu-blanc-rouge ausgeleuchteten großen Bühne spielt „Salut! Et Merci“. Und die zwanglose französische Begrüßung heißt eben nicht nur „hallo“, sondern eben auch „tschüss“: Die Grand Dame des Akkordeons verabschiedet sich mit bald 70 und nach fast 50 Jahren Bühnenleben von ihren Fans. Das tut sie mit einer Tournee, auf der sie ihre Lieblingslieder musiziert – und zwar solo.

Wobei: Was heißt schon solo, wenn jemand Akkordeon spielt – und noch mehr, wenn er oder sie dieses Instrument derart grandios beherrscht wie Lydie Auvray? Eigentlich hört man da doch einer Orgel nicht unähnlich ein faszinierend vielstimmiges Instrument. Mag sein Ton auch volkstümlich sein – er ist vor allem bodenständig und echt, kann aber eben auch kunstvoll und hochvirtuos klingen. Allerdings steckt man das „Schifferklavier“, die „Quetschkommode“ oder gar den „Jammerbalg“ eben nur zu gerne in eine Schublade. Auch Auvray tut das augenzwinkernd, nennt ihr Instrument das „Klavier der Armen“ und merkt an: „Das klingt hier irgendwie alles wie Kommissar Maigret“. Zugegeben: Der Pfeife rauchende Kriminaler, jene grandiose Schöpfung des Autors Georges Simenon, kam einem davor auch schon in den Sinn.

Eine so wunderbar leicht gespielte Musette ist fast schon zwingend ein bisschen klischeebehaftet und erinnert nicht zufällig an tanzende Menschen in einem Pariser Straßencafé – auch ohne Baguette unterm Arm, Baskenmütze, Ringelshirt und einer Gitanes im Mundwinkel. Womit vor allem eines skizziert sein soll: Lydie Auvray versteht es, mit ihrer Musik Atmosphäre zu schaffen, Erinnerungen zu wecken und Sehnsüchte zu bedienen. Wie beim Lied „La Mer“, das die offene See, die die Künstlerin über alles liebt, so trefflich vor das innere Auge pinselt. Allein schon, wie der Balg zu Beginn Wind und Wellenrauschen intoniert, schmeckt schon salzig.

Mit Ausnahme des Lieds „Accordeon“ von Serge Gainsbourg spielt und singt Lydie Auvray an diesem Abend ausschließlich eigene Lieder: im ersten Teil jüngere aus den 2000er-Jahren, im zweiten dann das Beste aus den 80ern und 90ern, darunter auch eines ihrer ältesten namens „Maigrets letzter Fall“. Also doch! Die deutschsprachige Französin, die linguistisch selbst ihr strengster Richter ist und jeden noch so kleinen Aussprachefehler sofort korrigiert, liebt „krumme Takte“ wie 5/8 oder 7/8: „Ich sag’s vorher, dann könnt Ihr entspannen und müsst nicht mitzählen.“

Auvray hat ihr Schaffen sorgsam auf 24 CDs dokumentiert, die sie natürlich alle im Gepäck hat und in der Pause sowie nach dem Konzert erfolgreich anbietet. „Ich habe jeden Abend ein wunderbares Publikum. Wirklich! Das liegt vor allem daran liegt, dass es meine CDs kauft“, schaut die Musikerin verschmitzt ins Auditorium – charmanter hat noch keiner für sein Merchandising geworben. Und genauso herzlich kommuniziert Auvray auch während des Konzerts mit ihrem Publikum, das wie sie über die Jahre nicht jünger geworden ist. Doch ihr Alter sieht man der Künstlerin nicht an, auch wenn sie statt der früheren roten Mähne ihre Lockenpracht nun silberweiß trägt. Im Unterhaus spielten auch schon andere, denen sie im Laufe ihrer Karriere begegnete und mit ihnen zusammenarbeitete: Hanns Dieter Hüsch, Konstantin Wecker, Hannes Wader, Emil Steinberger, Stefan Stoppok, Reinhard Mey, Georg Danzer. Wie schön, dass sie diese Bühne auch für ihr Mainzer Abschiedskonzert wählte.

Es war übrigens der Vater der 1956 in Langrune-sur-mer im Departement Calvados in der Normandie geborenen Lydie, der ihr das Akkordeonspiel nahelegte – er selbst lernte nie ein Instrument, erpfiff sich in seiner Werkstatt jedoch den Ruf einer Nachtigall. Ihm widmete Auvray 2015 auf ihrem Album „Musetteries“ das Chanson „Pur toi“ – für Dich. Darin heißt es: „C’est grâce à toi si je suis là / A vivre ma vie en chanson. T’étais si fier de moi! Merci papa. Merci pour mon accordéon!“ Zu Deutsch: „Es ist Dein Verdienst, wenn ich hier heute stehe und mein Leben mit Liedern verbringe. Du warst so stolz auf mich! Danke Papa. Danke für mein Akkordeon!“

Auch dieses Lied spielt sie im Unterhaus. Es erklingen Tangos, Walzer, Musettes, Chansons – Lieder zum Träumen, zum Tanzen und immer ein Genuss. Man bewundert Aurays Fingerfertigkeit, wie sie da über die Tastatur ihres chromatischen Knopfakkordeons flitzt, dynamische Akzente setzt – hier mal ein sattes Sforzato, da ein feines Diminuendo – und ihrer Musik das Strahlen eines sonnigen Wintertags oder die Melancholie eines Abschieds verleiht. Ein Crescendo ist hier nicht nur hörbar, sondern auch was für’s Auge, wenn der Balg ins scheinbar Endlose aufgezogen wird. Bei aller Leichtigkeit, die der Musik anhaftet, vergisst man nur zu leicht, dass die Künstlerin mit dem klingenden Vorbau körperlich durchaus Schwerstarbeit leistet: So ein Akkordeon wiegt gut und gerne seine zehn bis zwölf Kilogramm!

Und das ist ein gewichtiges Argument, irgendwann einmal ans Aufhören zu denken. „D’accord“, will man da fast sagen – so hieß auch 1987 ihr viertes Album. Lydie Auvray tut dies nicht nur musikalisch, sondern auch herzlich: „Normalerweise sage ich immer ‚Bis demnächst‘, diesmal nicht“, merkte sie zum Schluss an, ohne sich mit einem „Wobei …“ eine Hintertür offenzulassen, durch die man sie gerne wieder hereinkommen sehen würde. Das Publikum im Unterhaus bekam an diesem Abend auf jeden Fall ein wunderschönes Abschiedsgeschenk und so mancher Akkord klang noch lange nach. Es gab sicherlich niemanden, der beim stehenden Applaus nicht auch sagte: „Salut! Et merci.“

zurück