Poet der leisen Worte
MAINZ (2. Juli 2025). Dass am Beginn eines Textes, der an den Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch (1925-2005) erinnert, ein Bibelzitat steht, ist kein Zufall. Es findet sich im „Hohelied der Liebe“: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend‘ Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir‘s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit; sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.“
Die Verse stammen vom Apostel Paulus, der sie an die Gemeinde in Korinth schrieb. Sie beschreiben aber auch treffend Wesen und Charakter Hüschs, dem es nach eigenen Worten immer darum ging, „den Hass aus der Welt zu vertreiben, ihn immer neu zu beschreiben, damit wir bereit sind zu lernen, dass Macht und Gewalt, Rache und Sieg, nichts andres bedeuten als ewiger Krieg auf Erden und dann auf den Sternen …“ Der Kabarettist war trotz aller Zweifel tiefgläubiger Christ und sprach in Diskussionen, als Laien-Prediger auf der Kanzel und auf Kirchentagen offen von seinem christlichen Glauben, das jedoch ohne jeden missionarischen Eifer. Im Jahr 2000 erhielt der Protestant, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung einmal als „Bauchredner Gottes“ bezeichnete, den ökumenischen Predigtpreis und anlässlich von Hüschs 100. Geburtstag hat der Theologe, Liedermacher und Kabarettist Okko Herlyn ein Buch mit Psalmen, Gebeten und geistlichen Gedanken seines Kollegen veröffentlicht: „Ein Glück, dass es den Himmel gibt“ – ein Hüsch-Zitat.
Es ist sicher auch kein Zufall, dass in Mainz ausgerechnet eine Brücke den Namen Hanns Dieter Hüschs trägt – eine von mehreren lokalen Auszeichnungen wie dem Ehrenring der Stadt, der Ehrenbürgerwürde der Johannes-Gutenberg-Universität (auf deren Campus auch eine Straße nach Hüsch benannt ist), der Gutenberg-Plakette und einem Stern der Satire auf dem „Walk of Fame des Kabaretts“ zwischen Proviantamt und Romano-Guardini-Platz. Die Hanns-Dieter-Hüsch-Brücke führt im Mainzer Stadtteil Weisenau, wo der Namensgeber eine Zeit lang in einem Haus in der Moritzstraße wohnte, über die Wormser Straße und die Bahnstrecke Mainz–Mannheim zum Ufer des Rheins.
40 Jahre lang lebte der Kabarettist in der Landeshauptstadt, in die es ihn 1946 als Student zog – einer von denen, „die nix schaffe und nix wisse“, beschreibt Hüsch die damals landläufige, abschätzige Meenzer Meinung über die akademischen Kreise in seiner 1999 erschienenen Biografie „Du kommst auch drin vor“. Liest man darin oder in seinen vielen Texten – was man nicht nur wegen der beiden Jahrestage und eigentlich viel häufiger tun sollte! –, dann erfüllt sich sozusagen der Titel eines anderen, 1995 erschienenen Buches: „Wir sehen uns wieder“.
Er selbst nannte sich „das schwarze Schaf vom Niederrhein“, wuchs in Moers auf und lernte schon als Kind die kleine Welt zwischen Bauern und Beamten, Kleinbürgern und Gastwirten, Rheinschiffern und Fuhrleuten kennen, deren Leben er später im gleichnamigen Kabarettprogramm liebevoll karikieren sollte. Begleiten wir den Künstler doch ein wenig in seinen ersten Tagen in Mainz und lauschen seinem typischen Zungenschlag: „Als ich zum ersten Mal in einer Straßenbahn […] saß und von der Stadt nach Bretzenheim fuhr, da verstand ich ‚werklisch‘ kein Wort“, schreibt Hüsch in seinen Lebenserinnerungen im Kapitel „Der Aschermittwochsmensch“: „Ich dachte, ich bin auf einem anderen Kontinent, nicht nur in einem anderen Land, sondern in einer anderen Welt, aber die Leute babbelten drauflos, als wäre das die einfachste Sprache auf der Erde, aber man merkte auch, dass sie sich mit ihrer Sprache und ihrer Schnelligkeit über etwas hinwegsetzten, und dass der Krieg ihre schöne alte Stadt, ihr altes Mainz zerstört hatte, und dass sie jetzt alle, wie schon so oft, wieder von vorne anfangen mussten, und dass hinter ihren Kleinstadthirnen, Mainz ist ja Gott sei Dank keine Großstadt, sondern für mich immer eine große Kleinstadt, hinter ihren Kleinstadthirnen eine Menge Großzügigkeit steckte und auch eine gewisse Geschichtsschnoddrigkeit, die sich aber keinen Hochmut erlaubte.“
Die Stadt war für den damals 21-Jährigen eher „ein trostloses Fleckchen, der Kaffee im ‚Café Corso‘, direkt neben dem Theater, dunkles Wasser, und die Brötchen in der Mensa so groß wie ein Ei, und die ganz alten Mainzer, erzählten mir immer wieder von früher, genau wie am Niederrhein“. Bis 1988 sollte die Stadt für ihn jedoch Heimat werden, hier lernte er seine erste Frau Marianne kennen, hier wurde die gemeinsame Tochter Anna geboren. Zuletzt wohnte die Familie in der Bretzenheimer Bebelstraße. Die Stadt schenkte ihm den notwendigen geistigen Freiraum, um seinen einzigartigen Stil zu kultivieren: eine Mischung aus sprachspielerischer Poesie, humanistischem Pazifismus und pfiffiger Gesellschaftskritik.
An der neu eröffneten Johannes-Gutenberg-Universität begann Hüsch 1947 das Studium der Theaterwissenschaft, Philosophie und Literaturgeschichte. Doch schon bald trat er mit dem Mainzer Studentenkabarett „Die Tol(l)eranten“ – eine „orthographische“ Anlehnung an die großen Kolleginnen und Kollegen des Düsseldorfer „Kom(m)ödchens“ – auf. Eine weitere Bühne boten ihm die Mainzer „Zimmerspiele“ im Lesesaal der Volkshochschule im Haus am Dom. 1948 war Hüsch als Chansonnier in einem ersten Soloprogramm zu erleben und war Mitbegründer des Kabarettensembles „arche nova“, das bald auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannt wurde und Gastspiele in ganz Rheinland-Pfalz, Frankreich und der Schweiz gab. Einer seiner begeisterten Zuhörer war damals, schreibt Hüsch in seiner Autobiografie, der ebenfalls in Mainz studierende Mario Adorf.
Die Glocke, die heute im Mainzer Forumtheater Unterhaus, das lange Jahre Hüschs zweite Heimat war, den nahenden Beginn der Vorstellungen von Hüschs Kollegen ankündigt, war seinerzeit ein Geschenk der Stadt Mainz an das junge Ensemble der „arche“, das 1972 hier auch seine Abschiedsvorstellung gab. Repliken dieser Schelle erhalten Jahr für Jahr die mit dem Deutschen Kleinkunstpreis ausgezeichneten Künstlerinnen und Künstler. Erster Preisträger war 1972 Hanns Dieter Hüsch, der die Ehrung 1982 zum zweiten Mal erhielt. Zehn Jahre zuvor hatte der Kabarettist bereits sein 25. Bühnenjubiläum gefeiert. Die große Wutrede war seine Sache nie, erklärte er einmal in einem Radiointerview: Er wolle lieber zeigen, dass man auch mit Sanftheit aufrütteln kann. Mainz habe ihm dafür den Raum gegeben – und das Publikum die Geduld. Hier konnte er seinen Stil entwickeln: Ein Herr mit Haarkranz, Bart und Brille sitzt an einer Philicorda-Orgel von Philips, singt und liest vor –Poet der kritischen Fantasie.
Neben den Liedern fing Hüsch an, reine Texte zu schreiben: „Gedichte und rhythmische Prosa, literarische Collagen, politische Satiren und Privatpoesien“, beschreibt er sein Repertoire mit eigenen Worten: „Aber es entstanden auch immer wieder pure Geschichten, Kleinigkeiten, Allerweltsereignisse und Alltagserlebnisse, und dann die Geschichten, wo die Zuhörer immer zu mir kommen und sagen, sie müssen bei uns im Schrank gesessen haben. Und ich sage, das kann nicht sein, denn ich war an dem Tag ganz woanders. Menschengeschichten. Banalitäten. Nebensächliches. Unbedeutendes. Aber jeder fühlt sich angesprochen, sogar ertappt und lacht hoffentlich über sich selbst. Und die Erzählungen nehmen kein Ende. Ich erzähle von mir, meiner Frau, von meinem Gegenüber, von der Welt und meinem Hund, von uns allen, von Euch, von den Alten, den Jungen, den Verlierern und Gewinnern, von den Vorurteilen und den Nachreden: Meine Geschichten, die auch Eure oder Ihre Geschichten sein können, denn wir sind alle Säugetiere und mit Haut und Haaren, Leib und Seele verwandt. Und davon zu erzählen, war schon immer meine Lieblingsbeschäftigung.“
Hüschs Wortwitz war nie radikal, sondern eher liebevoll – was ihm die radikale Linke damals allerdings übelnahm: Beim legendären Liedermacherfestival auf Burg Waldeck 1968 wurde er ausgebuht, sein Stil war vielen zu zahm, seine Gesellschaftskritik zu bürgerlich. Hüsch, der anfangs mit der Studentenbewegung sympathisiert hatte, zog sich gekränkt zurück, nahm eine Auszeit und konzentrierte sich dann eine Zeit lang auf Radio- und Fernsehsendungen: Für das ZDF arbeitete er als humoriger Reiseberichterstatter, synchronisierte „Dick und Doof“ und „Die kleinen Strolche“. Auch im damaligen Südwestfunk, dem heutigen SWR, und WDR war der Kabarettist zu hören.
Bald schon zog es ihn aber wieder auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Jürgen Kessler, von 1969 bis 2002 Hüschs Manager, erinnert sich: „Seine Schaffenskraft war bei Bühne und Funk so gefragt, dass wir uns vor Aufträgen nicht retten konnten, die Anfragen stapelten sich, oft schloss ich Verträge für die Gastspiele zwei Jahre im Voraus ab, baute die Tourneen fahrtechnisch so günstig wie möglich zusammen, buchte Hotels. Es war eine schöne, langanhaltende Phase. Auch, weil der wahre Hüsch im Kabarett, zumal jener der produktiven Mainzer Jahre, seine Emotionen zeigte. Das unterschied ihn. Hanns Dieter war Spiel und Melancholie. War Poesie, nicht Rationalität. Literat, nicht Journalist. War Clown, nicht Witz. Anstifter für ein tieferes Empfinden unter den Menschen, Botschafter einer menschlicheren Welt, die sich nicht allein aus materiellem Verständnis zusammensetzt, in der jeder jedem hilft.“
Für sich, für seine Nächsten und das kleine und große Publikum habe der Künstler unermüdlich seine Chansons, Gedichte und Geschichten geschrieben, so Kessler: „Ohne im Besitz des Steins der Weisen zu sein. Aber immer im Bemühen, dem Leben einen höheren Existenzsinn abzutrotzen.“ Öffentliches Nachdenken mit unterhaltenden Mitteln sei seine Absicht gewesen: „Sein Kabarett war Zwiesprache eines Dichters mit seinem Text. Vor der Schärfe bewahrte ihn die Melancholie. Vor dem Idyll der Intellekt. Vor der Rohheit sein großes Herz.“
Eine lebensgroße Statue, die an den Wahlmainzer Hanns Dieter Hüsch, der diese Stadt so innig liebte, erinnert, findet sich vor Ort leider nicht. Dafür steht eine in seiner Geburtsstadt Moers. Immerhin eine Büste von ihm gibt es in Mainz: Das Werk des im April verstorbenen Künstlers Eberhard Linke ist im Deutschen Kabarettarchiv zu sehen, dem Hüsch einen Teil seines literarischen Schaffens bereits zu Lebzeiten als Vorlass hat zukommen lassen.