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Querdenker und Visionär

MAINZ (19. November 2014). Wie verzweifelt und zornig muss man sein, um Geiseln zu nehmen? Der Protagonist auf der Bühne des Unterhauses ist es jedenfalls: Thomas Freitag, der in diesem Jahr sein 40jähriges Bühnenjubiläum feiern kann, inszeniert „Der kaltwütige Herr Schütlöffel“.

Und er spielt seine Figur nicht nur, er hat sich diese Rolle einverleibt: Ein Bibliothekar begehrt auf, denn Sparmaßnahmen bedrohen seine Arbeit und stellen die Kultur per se in Frage. Kein Wunder, dass der Bücherwart zum Äußersten greift und sich in der Bibliothek verschanzt: 5.800 Bücher hat er in seiner Gewalt und verschont auch Frauenliteratur oder Kinderbücher nicht.

Der Kabarettist, der einst Erfolge als brillanter Stimmenimitator von Kohl, Blüm, Wehner oder Brandt feierte, hatte zur rechten Zeit erkannt, wann die Halbwertszeit der Abgetretenen überschritten war und ging mit seinem grandiosen Kammerspiel neue Wege: Der kulturelle Kahlschlag und Bildungsausverkauf ist Thema von Freitags 16. Bühnenprogramm und im Zeitalter von Google und Onlinewissen scheint sein Herr Schütlöffel tatsächlich auf verlorenem Posten zu stehen. Doch Freitag legt bewusst den Finger in die schmerzende Wunde – resigniertes Schweigen ist seine Sache nicht.

Und so nimmt er das Publikum mit den papiernen Geiseln in Sippenhaft, provoziert gekonnt das Stockholmsyndrom, was bei den Opfern Sympathien für den Täter keimen lässt. Und Freitag hat ja Recht: Zu leicht wirft man Werte über Bord. „Der kaltwütige Herr Schütlöffel“ steckt dem Auditorium daher einen klug formulierten Denkzettel zu und mahnt, sich um die Bewahrung von Bildung und Kultur Sorgen zu machen. Denn in Berlin tut das offenbar kaum jemand: „Wie lange wollen wir uns solche Leute eigentlich noch leisten?“, fragt der Mime mit Blick auf die konturlose Politik der aktuellen Regierung.

Wie dieser Mann spielen kann, die Bühne ausfüllt! Den Bücherregalen lässt Freitag diverse Figuren entsteigen: Da ist Friedrich Schiller, der seine „Räuber“ marktgerechter schreiben soll oder der Primat aus Kafkas „Bericht für eine Akademie“, der der Krone der Schöpfung vorhält, sich im Optimierungswahn zum Affen zu machen. Selbst Karl Marx erliegt alsbald dem rabattierten Angebot von Tennissocken aus Fernost: „Uns bedroht der Tiger Kapitalismus, aber wir füttern ihn ja.“ Freitag balanciert gekonnt auf dem Grat zwischen Anklage und Selbstkritik, was seiner Schelte zusätzlich Substanz verlieht.

Das Aufbegehren des Herrn Schütlöffels mündet schließlich in nachdenkliche Selbstreflexion: „Wir leben in einem Land, in dem Weltverbesserer ein Schimpfwort ist.“ Dabei brauche es die Querdenker und Visionäre, denn kaum etwas sei so alternativlos, wie es einem die Politik derzeit verkaufen wolle. Ein solcher Querdenker und Visionär ist Thomas Freitag. Und es lohnt sich, ihm ganz genau zuzuhören.

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