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Visionär, Spötter und Mahner

MAINZ (10. September 2015). 40 Jahre steht Thomas Freitag nun schon auf den Brettern deutschsprachiger Kleinkunstbühnen. Er hat mehrere Kanzler kommen und gehen sehen. Seine Kohl-Parodien waren so legendär wie die anderer Politgranden wie Wehner, Brandt und Strauß. Über letzteren sagt er quasi als leicht verspätetes Geburtstagsgeschenk zum 100. Wiegenfest: „Das war schon ein echter Drecksack – aber er hatte Format.“

Das vermisst Freitag an den heutigen Protagonisten der Macht, weswegen sich in seinem Jubiläumsprogramm „Nur das Beste“ auch keine liebevollen Vokal-Kopien von Merkel & Co. finden. Aktuell ist es dennoch. Das hat Freitag mit seinem Kollegen Volker Pispers gemein: Auch dessen Nummern sind so genau recherchiert und passgenau formuliert, dass sie zu zeitlosen Klassikern geworden sind, ja auch noch Jahre später zum Augenblick passen.

Könnte Kabarett die Welt wirklich verbessern, wären die politischen Kleinkünstler bald arbeitslos – die Resistenz der Mächtigen hat also auch ihr Gutes. Und so befindet sich auch Freitag in jenem knisternden Spannungsfeld: Er ist trauriger Visionäre und resignierter Spötter, nimmermüder Mahner und geduldiger Missionar zugleich. Vor allem aber ist er ein glänzender Schauspieler, der sich in seine Rollen intim hineindenkt und -fühlt: den frustrierten Rentner wie den polternden Bayern.

„Nur das Beste“ ist eine pikante Auswahl beliebter Nummern wie der Szene, in der Wehner, Brandt und Strauß zusammen im Altersheim wohnen oder Reich-Ranicki sich im Sessel windend „zeitgenössische Lyrik“ interpretiert – heute den Vers „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“. Man begegnet dem Protagonisten aus dem aktuellen Solo „Der kaltwütige Herr Schüttlöffel“ und erlebt während eines Beichtgesprächs, wie sich der Priester seinen Kummer über den geistlichen Werteverfall von der Seele redet, während die gläubige Seele, ein Bankangestellter, eigentlich loswerden möchte, dass er sein Geldinstitut um 10.000 Euro erleichtert hat. Dies, sagt der Kleriker angesichts der Bankenkrise, sei jedoch eine lässliche Sünde.

Freitag verknüpft seine Themen geschickt, so dass „Nur das Beste“ nicht zu einer beliebigen Nummernrevue wird. Bildung, Gerechtigkeit, das sind seine Themen. Hierum sorgt er sich – persönlich und in Gestalt seines Herrn Schüttlöffel, der als Bibliothekar seine Vorort-Filiale besetzt hat. Man erlebt Friedrich Schiller, dessen Verleger die „Räuber“ marktkonformer haben möchte: Plötzlich heißt die Hauptfigur Karla Moor, das Ganze spielt in Cornwall und dreht sich um ein Intimpiercing – oder ist ein schwedischer Krimi mit Profiler und Serienkiller.

Das alles gerät wohl durchdacht, anregend und unterhaltsam. Doch Freitag, der Mann mit der sonoren Stimme beherrscht auch die leisen Register: Beim Abendgebet eines afrikanischen Kindes läuft es einem im Mainzer Unterhaus kalt den Rücken hinunter. Chapeau! Weitere 40 Jahre auf der Kleinkunstbühne wird Freitag kaum schaffen. Aber allzu bald sollte er sie nicht verlassen.

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