Rampensauerei mit fitten Misses
MAINZ (6. Oktober 2023). Spätestens seit Corona stellt sich die Frage, ob ein Bällebad in puncto Hygiene das Mittel der Wahl sein sollte. Angeblich fördert es Gleichgewichtssinn, Motorik und Kreativität von Kleinkindern. Und was die betrifft, scheint Ariane Müller und Julia Gámez Martin das Gleiche passiert zu sein wie weiland Obelix mit dem Zaubertrank: Als Duo „Suchtpotenzial“ sind sie nämlich mit das Stärkste, was das Musikkabarett derzeit zu bieten hat und veranstalten einfach eine köstliche Rampensauerei.
Schon nach ihrem Auftritt 2020 im Mainzer Unterhaus wurden hier die überdeutlichen Parallelen zu ihren Kolleginnen Gerburg Jahnke und Stephanie Überall, bis 2005 als „Missfits“ unterwegs, betont. Und dieser Eindruck vertieft sich auch mit dem aktuellen Programm von „Suchtpotenzial“: Es heißt „Bällebad forever“. Das ist am Abend zwar nur im ersten Lied Thema, zeigt aber hier schon unmissverständlich, wie fit diese beiden Misses beim Reimen sind.
Und wie musikalisch: Gámez Martin ist studierte Musicaldarstellerin und singt mit einer packenden Stimmbrillanz, Müller parliert kongenial am Flügel. Locker flockig hauen sie sich dabei die Pointen um die Ohren: klug und angriffslustig, sympathisch direkt und mit derber Hau-drauf-Allüre, um möglichst viel Porzellan zu zerschlagen – rotzig ordinär, aber mit Niveau. Nicht umsonst bekam „Suchtpotenzial“ 2020 den Deutschen Kleinkunstpreis in der Sparte Musik („Wir haben jetzt insgesamt sechs Glocken!“).
Zwischen den Liedern erlebt das Publikum einen wunderbaren Schlagabtausch nach dem anderen. Da geht es um Coaching: Müller macht in Achtsamkeit und Gámez Martin in Nachhaltigkeit. Weswegen eben kein echtes Bällebad auf der Bühne steht: Man will auf Kunststoff verzichten. Im Zwiegespräch übertrumpfen sie sich beim Umweltschutz und Müller rechnet bestechend vor: „Als Veganerin habe ich vier Flüge nach Malle und zurück frei.“ Für Fleischesser hieße es im Urlaub hingegen Zelten in Brandenburg.
Im Sekundentakt ballern „Suchtpotenzial“ die Pointen ins Publikum, das sich köstlich amüsiert. Offenbar verfügen die beiden tatsächlich über komödiantische Superkräfte: Schließlich eröffnen sie den zweiten Teil als capebehängte „Supersuchtis“, denen Gerburg Jahnke (Aha!) einst ihre Macht verlieh: Tagsüber retten sie die Welt und nachts treten sie auf – man weiß gar nicht, was man mehr goutieren möchte. Gámez Martin und Müller kommen dabei unglaublich authentisch rüber und bei einem Texthänger kriegt die Sängerin einen derart liebenswerten Lachanfall, dass der von Tagesschausprecherin Susanne Daubner jüngst dagegen als Trauermine durchgeht.
Do-it-yourself-Wahn, Selbstoptimierung, Spaltung der Gesellschaft durch Maulwurf-Leugner, Gendern (Heißt es nun das oder die Nutella?), WhatsApp-Sprachnachrichten, Yoga-Podcast, Kreuzfahrten, Intervallfasten (bei dem die Pianistin die Terzen auslässt) oder Mondphasen (mit Krafttier Nackt-Waran): Ein roter Faden ist nicht unbedingt auszumachen, aber der ist bei „Suchtpotenzial“ auch überhaupt nicht nötig.
Mag es bei anderen vielleicht mal eine Nummer geben, die etwas abfällt, herrscht bei diesen Künstlerinnen unbedingte Hochspannung von der ersten bis zu den letzten Minuten (die übrigens wie im Flug vergehen). Dabei hatten sie so eine schwere Jugend in den 1990ern: Kurz nach Kriegsende (am Golf) froren sie auf dem Schulweg (mit bauchfreiem Top), mussten früh noch die Tiere füttern (Tamagotchi) und ihre Alkopops selbst mischen – da geht es der heutigen Jugend gar nicht so schlecht. Früher war eben nicht alles besser.
Bei allem Witz hat „Bällebad forever“ kratzfeste Substanz: Ariane Müller und Julia Gámez Martin haben dem Sexismus den Kampf angesagt, beweisen und provozieren mit ihren Texten bewundernswert Haltung. In ihrem Dankbarkeitslied an alle tollen Männer fordern sie nicht nur gleiche Bezahlung für Frauen, sondern stellen klar, warum das „starke Geschlecht“ sich nichts auf einen Universitätsabschluss einbilden sollte: Die sexuelle Potenz bei Männern steht nämlich eher in reziproker Relation zur intellektuellen Kapazität ihrer Akteure. Gibt es bei „Suchtpotenzial“ eigentlich eine „row zero“?