Himmlische Verführung
WIESBADEN (26. April 2025). Die Bühne des Thiersch-Saals im Wiesbadener Kurhaus ist schwarz verhängt, eine Leinwand steht schräg links, im Hintergrund ein Sessel, Bistrotische, dazu ein bisschen Lichtzauber – es braucht nicht viel, um die Illusion eines Dorfplatzes zu erwecken: Ein paar musette-artige Jazz-Klänge der Kapelle „Les Manouches Du Tannes“ geleiten das Publikum ins französische Provinzstädtchen Lansquenet-sous-Tannes. Hier spielt die Geschichte, die Joanne Harris in ihrem 1999 erschienenen Roman „Chocolat“ erzählt.
Die alleinstehende Vianne Rocher (Ann-Kathrin Kramer) bezieht mit ihrer Tochter Anouk die Räume einer früheren Bäckerei und eröffnet dort einen kleinen Laden für Schokolade und Pralinen. Warum auch nicht? Darum: Nicht nur, dass die Geschäftseröffnung mitten in die Fastenzeit fällt – die unmoralischen Süßigkeiten stoßen dem katholischen Priester Pater Reynaud (dargestellt von Kramers Ehemann Harald Krassnitzer) sauer auf, der nun Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um der Neuen das Leben schwer zu machen. Doch die hat ein offenes Herz und ein besonderes Gespür für ihre Kunden, so dass sich ihr Laden trotzdem rasch zum geheimen Treffpunkt des Orts entwickelt.
Kramer spielt die Rolle der Vianne mit (deren) sonnigem Gemüt anrührend: Auf jede Volte des Priesters reagiert sie mit einer Herzlichkeit, die eigentlich dem Geistlichen anstünde. Doch der, von Krassnitzer pointiert parodiert, klagt sein Leid lieber seinem komatös-bettlägerigen Amtsbruder, von dem er freilich keinerlei Widerspruch zu erwarten hat. Die immer wieder verschobene Großleinwand zeigt abwechselnd das bunte Bild von Viannes Patisserie und die staubig-farblosen Amtsräume Reynauds unter einem großen Kreuz, das sich im Verlauf der Geschichte eher als ein Fragezeichen entpuppt. Die Regie hat der Lesung eine lebendige Ping-Pong-Haftigkeit verschrieben und musikalisch inspiriert von „Les Manouches Du Tannes“ fiebert man mit, wie die Handlung ausgeht.
Vielleicht hat man das Buch gelesen, vielleicht den vor 25 Jahren gedrehten Film von Regisseur Lasse Hallström mit Johnny Depp in der Rolle des Vagabunden Roux gesehen. Hier ist es nicht der Pfarrer, sondern der Bürgermeister, der gegen Vianne intrigiert. Dass es im Original ein Priester ist, verleiht gerade der Wiesbadener Aufführung eine besondere Pikanterie: Am gleichen Tag wurde mit dem verstorbenen Papst Franziskus ja sozusagen Pater Reynauds oberster Chef beigesetzt.
Nicht nur die wunderbar überzeichnete Darstellung des Geistlichen, sondern auch die offene Fremdenfeindlichkeit, mit der das Städtchen auf eine Gruppe Bootsvagabunden reagiert, zieht die Handlung ins Heute: auf der einen Seite eine durch Vianne personalisierte offene Gesellschaft, auf der anderen Seite ein Flugblätter verteilender Mob, der auch vor Gewalttaten nicht zurückschreckt und die Boote der Fremden in Brand steckt. Da läuft es einem kalt den Rücken herunter – auch dem Pater, dem seine populistische Politik aus den Händen geglitten ist.
Ausgerechnet an Ostern feiert Vianne ein großes Schokoladenfest. In der Nacht zuvor bricht Reynaud in den Laden ein und will ihn verwüsten, um die Tat dem gewalttätigen Muscat in die Schuhe zu schieben. Im Angesicht der süßen Pracht wird der Pater jedoch schwach, verfällt der süßen Verführung und wird, schokoladeverschmiert im Schaufenster sitzend, in flagranti von Vianne ertappt. Krassnitzer und Kramer sind ein wunderbares Paar für dieses „Märchen für Erwachsene“. Gerade die zuckersüße Bigotterie, mit dem der Österreicher den Pfarrer spielt, könnte einem schier alle Plomben herausziehen, so abstoßend einnehmend ist sein Spiel.
Eine vergnügliche Mischung aus Schauspiel, Lesung und Konzert präsentieren die Meisterkonzerte Wiesbaden da ihrem Publikum, das den als „Sonderkonzert“ deklarierten Auftritt der Mimen und Musiker mit warmherzigem Applaus belohnt. Das Bonbon im Konzertreigen hatte sich im Vorverkauf offenbar als Renner erwiesen: Auch in der neuen Spielzeit werden Ann-Kathrin Kramer und Harald Krassnitzer mit „Les Manouches Du Tannes“ zu Gast sein und am 31. Mai um 19 Uhr den Schokoladenladen von Vianne öffnen. Lecker!