Von wegen Stille Nacht
MAINZ (5. Dezember 2025). Ein Adventskalender hat in der Regel 24 Türchen – es sei denn, er kommt von „Wildes Holz“, dann richtet sich das nach der Anzahl der Auftritte mit dem Weihnachtsprogramm „Alle Jahre wilder“. In diesem Jahr gastieren Tobias Reisige, Johannes Behr und Markus Conrads damit achtmal zwischen Nordenham und Bad Schönborn und öffneten im Unterhaus das erste Türchen.
Premiere also für ein immer wieder mir alten und neuen Stücken gestaltetes Programm, das seit Jahren nach demselben Schema bestens funktioniert: Die drei Vollblutmusiker nehmen sich ein bekanntes Weihnachtslied und bearbeiten es für ihre ganz spezielle Besetzung aus Blockflöte (Reisige), Gitarre (Behr) sowie Kontrabass (Conrads). Doch damit nicht genug: Mit diesem Arrangement verknüpfen sie Hits großer Stars und erweisen sich dabei als veritable Verpackungskünstler, denn auf den ersten Ton erkennt man die Melodien selten und kann sich daher nicht nur an der so grandios gespielten Musik, sondern auch am Raten erfreuen.
So wird „Kommet Ihr Hirten“ mit Gordon James Gano kombiniert oder „Maria durch ein Dornwald ging“ mit Kurt Cobain. Das funktioniert natürlich auch andersrum, wenn ganz unadventlich „Hells Bells“ von AC/DC erklingt und man plötzlich das thematisch irgendwie dann ja doch naheliegende „Jingle bells“ hört – musikalischer Schabernack auf allerhöchstem Niveau, denn Reisige, Behr und Conrads sind nicht nur studierte Künstler ihres Fachs, sondern auch Musiker und Musikanten in Personalunion.
Die Blockflöte ist das kleinste Instrument im Trio und steht doch im Mittelpunkt. Gerade zur Weihnachtszeit erlebt das „Folterholz“ ja immer wieder seine Renaissance und der Verfasser dieser Zeilen gäbe was drum, wäre ihm dieser Begriff selbst eingefallen – er findet sich jedoch im Konzertflyer. Was im klassischen Bereich Kollegen wie Dorothee Oberlinger, Maurice Steger, Simon Borutzki oder Isaac Makhdoomi schaffen, nämlich das Instrument hochvirtuos in ein verdient strahlendes Licht zu stellen, das schafft auch Tobias Reisige: Mit Macht bläst er buchstäblich den Staub der Verkanntheit weg und entlockt seinen verschiedenen Pfeifen aller Register bis hin zur selbstkonstruierten Subbass-Flöte faszinierende Melodien. Kurz: Hier lernt man das Instrument und seine Möglichkeiten erst so richtig kennen.
Was „Wildes Holz“ so bewunderns- und gleichzeitig liebenswert macht, ist der ungezwungene Umgang mit der hohen Kunst, die dadurch beiweitem nicht kleiner wird. Denn zwischen den klingenden Karikaturen von „Nun komm der Heiden Heiland“ oder „Gloria in Excelsis Deo“ wird auch immer Alte Musik im neuen Gewand gespielt. An diesem Abend ist es das C-Dur-Konzert RV 443 von Antonio Vivaldi, dessen Largo und Allegro aus dramaturgischen Gründen in umgekehrter Satzreihung und außerdem in G-Dur erklingen.
„Menschen mit absolutem Gehör haben jetzt Pech – aber die wären ohnehin nicht mehr da“, witzelt Markus Conrads, der mit seiner Frisur und Bartpracht an eine Mischung aus gutmütigem Bobtail und Animal aus der Muppet Show erinnert und das Auditorium immer wieder mit spürbarer Herzlichkeit anstrahlt. Während er an seinem Bass also zuweilen haedbangend die Aufmerksamkeit auf sich zieht, sind die beiden anderen Musiker eher zurückhaltende Gentlemen. Doch galt es im England des 17. Jahrhundert für Menschen der Upper Class nicht als schick, stets eine Blockflöte bei sich zu haben? Reisige weiß jedoch, dass seine großartige Kunst hier nur im Zusammenspiele mit den anderen funktioniert. Auch dieser Teamgeist schwingt in jedem Akkord hörbar mit.
„Frosty, the Snowman“, „Little Drummerboy“ und natürlich „Last Christmas“ – alles wird jahrein jahraus im Radio und auf jedem Weihnachtsmarkt auch abseits jeder Gema-Diskussion rauf- und runtergedudelt. Mit „Wildes Holz“ bekommt aber selbst der abgeschmackteste Hit einen besonderen Gout. Oder wann hört man „Ihr Kinderlein kommet“ als Rumba? Liebevoll und nie respektlos nehmen sich die Arrangeure der Melodien an und entdecken sie mit dem Publikum immer wieder ein Stück weit neu.
Das wohl beste Beispiel an diesem Abend ist das Werk, das der französische Komponist Charles Gounod Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem berühmten C-Dur-Präludium BWV 846 aus dem „Wohltemperierten Klavier“ von Johann Sebastian Bach schuf: Über den fließenden Arpeggien erklingt sphärisch das „Ave Maria“ – hier hat sich ein Meister der Musik eines Kollegen angenommen und der Welt damit ein weiteres wundervolles Stück geschenkt. Reisige, Behr und Conrads spielen das „Ave Maria“ auf Blockflöte, Gitarre und Mandoline und wieder kommt etwas Neues dabei heraus. Ein Abend mit Wildes Holz“ ist eben nicht nur vor Weihnachten ein Geschenk.


