Brüsseler Spitze
DARMSTADT (4. Dezember 2010). Europa ist natürlich eine tolle Idee, auch wenn die parlamentarischen Winkelzüge einen zuweilen etwas ratlos an der eigenen Grenze stehen lassen. Bei allem administrativem Aberwitz gibt es jedoch auch Direktiven, vor denen man respektvoll den Hut ziehen möchte: wie das 1985 vom politischen Parkett aus ins Leben gerufene Projekt des EUBO, des European Union Baroque Orchestra, das jetzt in Darmstadt gemeinsam mit der Sopranistin Maria Keohane ein rauschendes Händel-Fest feierte.
Sie sind die besten von 100: die rund 20 Musikerinnen und Musiker des EUBO, die momentan die Besetzung eines der besten Barock-Klangkörper stellen dürfen. Jedes Jahr werden so viele junge Künstler zu einem Vorspiel eingeladen, um sich für ein Pult in diesem Eliteorchester zu empfehlen. Nach einer sechsmonatigen Arbeitsphase unter der Leitung der führenden Barock-Spezialisten wie Reinhard Goebel, Roy Goodmann, Ton Koopman oder dem Musikalischen Direktor Lars Ulrik Mortensen, der auch das Konzert in der Stadtkirche leitete, werden diverse Programme entwickelt und in Konzerten weltweit aufgeführt – als offizieller Repräsentant der Europäischen Union.
Man schwankt noch zwischen hochachtungsvollem Schweigen und frenetischem Applaus, als sich letzterer schon längst die Bahn bricht: Das EUBO spielt unter Mortensen einen Händel, wie man ihn so nur selten hören kann. Da ist nichts von der ja notwendigen Routine zu hören – im Gegenteil: Hier wurde die Musik durchdrungen, so dass man sie mit Eleganz und einer kristallenen Transparenz federleicht wiedergeben kann. Dieses Orchester gleicht einem lebendigen, kerngesunden Organismus, der mit Anmut musiziert und sich dabei gemeinsam mit seinem Auditorium am geschaffenen Klang delektiert.
Die Ouvertüre zu „Alcina“ (HWV 34) gerät sinnlich, die Ballettmusiken aus dem gleichen Werk spielt das EUBO mal mit kammermusikalischer Finesse, mal mit sinfonischer Geste – aber stets auf den Punkt und mit tiefer Homogenität und Spannung. Das Concerto grosso d-moll op. 6/10 wird an diesem Abend von Arien aus „Agrippina” (HWV 6), „Giulio Cesare” (HWV 17) und eben „Alcina” durchbrochen, wodurch Dirigent Mortensen einen ganz neuen, inspirierenden Zusammenhang schafft.
Nur: Welche Gesangsstimme mag hierzu passen? An diesem Abend ist es Maria Keohane – eine mehr als glückliche Wahl: Sie spiegelt sich in der Perfektion des Orchesters, fügt sich ohne Wenn und Aber in den organischen Klang ein und steht als prima inter pares doch an exponierter Stelle. Mit natürlicher Stimmschönheit und ohne jegliche vokale Allüre besingt sie die Liebe mit keckem Amüsement oder eindringlicher Verzweiflung – man nimmt ihr jede Regung ab.
Das EUBO zieht mit seiner Kunst gleichsam eine gefühlte Kulisse für die verschiedenen Szenen auf und als Keohane im zweiten Konzertteil in der Kantate „Ero e Leandro“ (HWV 150) den Tod herbeisehnt, trifft sie den empfänglichen Hörer mitten ins Herz: Ihre Schlusstöne formt sie dabei mit einem so intensiven Decrescendo, dass man den Ton auch noch zu hören meint, als die Sängerin ihre Lippen bereits geschlossen hat. Bezaubernd!
Wie aber schafft es das EUBO, solche Stimmungen zu erzeugen? Die Antwort muss zwangsläufig vielschichtig ausfallen und lässt sich doch in wenigen Worten formulieren: Da ist Respekt vor und tiefe Liebe zur Musik, die gerade durch die Jugend der Interpreten als unverbraucht und wahrhaftig empfunden wird; und es braucht natürlich einen ebenso fühlenden Dirigenten, der seine Begeisterung lebt. Was einer wie Lars Ulrik Mortensen durchaus sichtbar tut.
Nun mag man dem extrovertierten Dänen auf den ersten Blick unterstellen, er produziere sich auf Kosten der Musik. Doch wer genau – und vor allem einen Augenblick länger – hinschaut, wird merken, wie sehr das Gegenteil der Fall ist: Mortensen ist kein Dirigent, der die Aufführung leiten will, sondern versteht sich als Teil des Orchesters – vor allem dieses. Dabei scheint er sich die Barockmusik wie einen flauschigen Pullover überzuziehen, in dem er sich sichtlich wohl fühlt.
Mortensens leidenschaftliches und doch geschmeidiges Schlagen sprüht vor Vitalität und wer im Profil seinen Blick erhaschen kann, fühlt sich unmittelbar angesprochen, ja ins instrumentale Geschehen hineingezogen: Dieser Dirigent flirtet geradezu mit seinen Musikern, führt mit Mimik, wo sein Cembalospiel die Gestik für einen Moment unterbindet. Und das Ergebnis ist phänomenal, denn das Entzücken, das der Künstler selbst verspürt, überträgt er geradlinig auf seine Instrumentalisten, die dies ebenso intensiv zurückgeben, wodurch man sich gegenseitig anspornt – et violà: Fast hat man sein Perpetuum mobile…
Für den Rundfunk wurde das Konzert des Musikalischen Herbstes Darmstadt der Philharmonie Merck 2010 mitgeschnitten und wird am 20. Februar 2011 um 20.05 Uhr auf hr2 Kultur zu hören sein.