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Mit musikalischer Sprengkraft

MAINZ (11. November 2023). Noch bevor das etwa 30-köpfge Publikum Platz genommen hat, erklingen energische Töne vom Flügel im Wohnzimmer im vierten Stock der Mainzer Neustadt, wo Ulrike Jann-Kortenbusch und Stefan Kortenbusch zum Salonkonzert geladen haben. Es spielt die ukrainische Pianistin Antuanetta Mishchenko und wer noch beim Häppchenbuffet in der Küche verweilt, verpasst das „Lied ohne Worte“ Nr. 6, das „Venezianische Gondellied“ von Felix Mendelssohn Bartholdy. Schade eigentlich: Auch Johann Sebastian Bachs „Präludium und Fuge“ B-Dur aus dem „Wohltemperierten Klavier“ dient eher als „Reinschmeißer“. Nächstes Mal sucht man sich besser pünktlich seinen Platz im kompakten Konzertsaal.

Richtig los geht es mit Robert Schumanns „Kinderszenen“ op. 15, von denen der Gastgeber in begrüßenden Worten meinte, jeder Klavierschüler habe sie wohl schon gespielt – aber so bestimmt noch nicht. Und er soll Recht behalten. Die Pianistin scheint sich mit ganzer Seele in die Musik hineinzuwerfen. Und sie ist, um im Bild zu bleiben, eine herausragende Schwimmerin. Der Zyklus mit seinen 13 Stücken, laut Komponist eine „Rückspiegelung eines Älteren für Ältere“ spiegelt Sehnsucht, Neugier, Introvertiertheit und Melancholie. Der Blick von Antuanetta Mishchenko scheint sich beim Spiel im Nichts zu verlieren – die Musik hat sie dabei fest im Auge.

Faszinierend ist ihre Interpretation der Walzer von Frédéric Chopin: Fünf Stücke hat die Künstlerin aus den Opi 18, 34,42 und 64 ausgewählt und präsentiert eine eigenwillige und hochspannende Auffassung, die sich fernab aller Dreivierteltakt-Seligkeit manifestiert. Im Gegenteil: Mishchenko pulverisiert das rhythmische Gefüge geradezu, scheint die Walzer im Stück erst zu entdecken, tastet sich vor wie man es von den Bach-Interpretationen eines Konstantin Lifschitz kennt.

Sie selbst bekennt, das Spiel dieser Werke eher als Improvisation zu verstehen und man kommt aus dem Staunen kaum heraus, wie neu und ungewohnt das Altbekannte hier klingt. Da wirken Läufe wie eine Achterbahnfahrt auf der Mishchenko wie auf dem Scheitelpunkt kurz innehält, um dann mit Rasanz in die Tiefe zu rauschen. Schon beim Hören kann man sich die flinken Finger kaum vorstellen. Der Kollege Cyprien Katsaris, von dem eine Aufnahme dieser Stücke im heimischen Regal steht, hat es künftig auf jeden Fall schwerer.

Dass Mishchenko bei ihrer Dynamik zuweilen vergisst, dass sie an diesem Abend keinen Konzertsaal, sondern ein Wohnzimmer bespielt, sei verziehen: Die junge Pianistin versprüht bei Chopin und im zweiten Teil bei den zehn Varitionen „La stessa, la stississima“ sowie den Sonaten Nr. 24 und 41 von Ludwig van Beethoven eine unbändige Kraft. Ausdruck und Temperament erklingen hier fast schon mit einer gewissen Wut, was verständlich wird, wenn man um die jüngste Biographie der Künstlerin weiß.

Antuanetta Mishchenko ist 2022 mit nichts außer ihrem Talent vor dem russischen Angriffskrieg aus Kiew nach Mainz geflohen, wo sie nicht nur auf hilfsbereite Menschen traf, sondern mittlerweile auch am städtischen Peter-Cornelius-Konservatorium unterrichtet sowie verschiedentlich konzertant auftritt. In naher Zukunft reist sie nach Australien, wo sie in Perth unter anderem Beethovens fünftes Klavierkonzert aufführt. Im Spiel Mishchenko könnte man also durchaus einen gewissen „heiligen Zorn“ über das Unrecht orten, das ihrem Volk angetan wurde und wird, und den die Künstlerin nun in der Musik ausdrückt und verarbeitet.

Doch genug der Küchenpsychologie: So kraftvoll, bekannte Hausherr Stefan Kortenbusch nach dem Konzert, sei sein mehr als hundert Jahre alter Flügel noch nie gespielt worden. Das Publikum wurde auf jeden Fall Zeuge einer energiegeladenen und Funken schlagenden Interpretation, die der Musik bestens bekommt. Die Zugabe fiel gelassener aus: ein Stück ukrainischer Jazz, bei dem die Provenienz nicht herauszuhören war – Musik ist eben international und verbindend.

Videos der Pianistin Antuanetta Mishchenko und ihrer atemberaubenden Chopin-Interpretationen kann man hier sehen und hören: https://www.youtube.com/watch?v=ln2ygyg4qnY&list=PL28XKPLPgCiNPaY8jagNWD5Wi8×2-8Ff8.

Ein ausführliches Portrait der Künstlerin findet sich hier: http://www.schreibwolff.de/musik/portrait-mishchenko.

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