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Eine Reportage live von Golgatha

KIEDRICH (25. August 2011). Es war der 11. März 2011, als das japanische Volk von einer schrecklichen Naturkatastrophe und dem daraus resultierenden Atomunfall heimgesucht wurde. Doch wer erinnert sich heute, gut fünf Monate später, noch an diese grausamen Nachrichten? Die Medien hatten die Lust am Schrecken schnell wieder verloren, so dass das Schicksal der Millionen Betroffenen heute nurmehr in der Rubrik „Vermischtes“ auftaucht.

Anlässlich des Konzerts des Bach Collegium Japan unter der Leitung von Masaaki Suzuki aber waren die Bilder wieder präsent und legten sich wie ein düsterer Schatten auf das Gemüt der Zuhörer: „Kommt Ihr Töchter, helft mir klagen“, lässt Johann Sebastian Bach seine Matthäuspassion beginnen und schließt mit den Worten „Wir setzen uns mit Tränen nieder“. Zwischen diesen Bekenntnissen tiefer Trauer spannten die japanischen Künstler mit den handverlesenen Solisten einen Bogen von atemberaubender Dramatik, der verdeutlichte: Christi Tod sollte man genauso wenig nur am Karfreitag gedenken wie die Opfer einer Katastrophe biblischen Ausmaßes allzu rasch vergessen.

Um das Lob zum Schluss nicht doch noch relativieren zu müssen die kritischen Anmerkungen zuerst: Nach einem im Vergleich mit den folgenden, forschen Tempi unverständlich schleppenden Eingangschor war es nur Suzukis Umgang mit den Chorälen, der zu stören vermochte, denn die inhaltliche Kraft dieser kleinen Kontemplationspunkte ignorierend schien der Dirigent jene Nummern eher einheitlich abzuhaken, wobei man einen Bachschen Choral ja selbst dadurch kaum kaputt machen kann. Schade nur, dass die werkimmanente Aussage hier nahezu ungehört verklang.

Ansonsten war diese Aufführung von einer elementaren Kraft durchzogen, die das gut dreistündige Passionsgeschehen keinen Augenblick spannungslos erscheinen ließ: Ein exzellenter, klein besetzter Chor, der seine Partien markant und mit vollen Obertönen anging und in den Turba-Chören eine trotzig-kompromisslose Basta-Haltung an den Tag legte, ein herausragend transparent sekundierendes Orchester mit brillanten Instrumentalsolisten – dafür steht das Bach Collegium Japan seit nunmehr über 20 Jahren.

Und Suzuki hat nicht nur ein Händchen für Bach – er versteht es auch, die aussagekräftigsten Vokalsolisten zu finden: Ein väterlich-respektabler Christus (Peter Kooy), Rachel Nicholls mit silbrigem Sopran und Robin Blaze als Altus, der seine Partien schwerelos und wendig zu gestalten vermochte. An diesem Abend jedoch waren es zwei Namen, die noch lange nachhallten: Dominik Wörner, der seine Bass-Arien sowie die Rollen von Pilatus, Petrus und des Hohepriesters mit eleganten Belcanto veredelte und Gerd Türk als Evangelist.

Gerade er garantierte für Spannung bis zu letzten Minute und erfüllte die Herkulesaufgabe, sowohl die Arien als auch die Erzählerrolle packend zu gestalten, mit höchster Bravour: Schloss man die Augen, wurde man direkt in die gefühlvoll kolorierten Szenen hineingezogen und erlebte einen Evangelisten, der die Botschaft nicht nur wiedergab, sondern auch gleich überzeugend auslegte – einzigartig phänomenal.

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