„Eine Reise zu Bach“
MAINZ (12. April 2017). Bachs Matthäus- und Johannespassion erklingen weltweit jedes Jahr aufs Neue – letztere wurde und wird in Mainz 2017 sowohl von der Domkantorei als auch vom Bachchor musiziert. Und der Thomaskantor hat nachweislich auch eine eigene Passion auf das Markus-Evangelium aufgeführt – erhalten sind zwei Libretti, der Notentext fehlt allerdings.
Einer der ersten, der im barocken Parodieverfahren – neue Texte wurden mit bereits bestehenden Arien und Chören kombiniert – eine Partitur einer möglichen Markuspassion erstellte, war Diethard Hellmann. Von 1955 bis 1985 leitete er den Bachchor Mainz und stand in den Jahren 1973 und 1974 auch dem Collegium musicum der Johannes-Gutenberg-Universität vor.
Dessen heutiger Leiter ist der Barockspezialist Felix Koch, Cellist und Dirigent. Als solcher studierte er jüngst mit dem Gutenberg Kammerchor die Version Hellmanns ein, die nach dem Fund des zweiten Librettos (2009 in St. Petersburg) um weitere Arien ergänzt werden konnte. Dieser Aufgabe widmete sich auch der Musikwissenschaftler Karl Böhmer, der sich intensiv mit Bach auseinandergesetzt hat und zusätzlich in der Kantate BWV 159 sowie der eher selten gespielten A-Dur-Messe (BWV 234) fündig wurde: Die Verse von Bachs Dichter Picander passen perfekt auf dort geortete Arien-Vorlagen! Somit umfasst die Markuspassion (BWV 247) nun Eingangs- und Schlusschor, acht Arien und 16 Choräle.
Das Werk, das in Konzerten in der Schiersteiner Christophorus- und Frankfurter Heiliggeistkirche zu hören war, wurde auch für eine CD eingespielt: „Eine unheimlich spannende Arbeit“, schwärmt Koch, der 1985 als Jugendlicher im Rundfunkprogramm erstmals von dieser Markuspassion gelesen und zunächst an einen Tippfehler geglaubt hatte. In den Folgejahren begegnete er dem Werk immer wieder – nun als Musiker. Schließlich wählte Koch sie auch als Thema seiner Diplomarbeit: „Es ist eine Reise zu Bach.“
Was das Stück in der hier musizierten Version von seinen Geschwisterwerken (und anderen Rekonstruktionsversuchen) unterscheidet, ist das Fehlen der Rezitative und Volkschöre. Hier sei man mit dem Parodieverfahren nicht weit gekommen, erklärt Koch; das Evangelium wird daher (wie bereits von Hellmann angedacht) von einem Sprecher vorgetragen. Woran sich der Hörer durchaus erst wird gewöhnen müssen, doch sei eine kenntnisreiche Lesung immer noch besser als nachkomponierte Rezitative: „Man kann Bach nicht kopieren.“
Gewissenhaftes wie erklärbares Parodieverfahren bei den Arien und das Studium einer umfassenden Choralsammlung sorgen allerdings dafür, dass man sich mit dieser Markuspassion wohl recht nahe bei Bach befindet. Und das Fehlen der musizierten Rezitative ist für Koch sogar in gewisser Weise ein Pluspunkt, denn bei langen und sehr bekannten Werken bestehe oft die Gefahr, sich müde zu hören. „Dadurch, dass wir immer wieder zwischen gesungenem Wort und gesprochenem Text wechseln, bleibt man leichter dabei“, beschreibt der Dirigent eine Erfahrung, die er bereits in seiner musikpädagogischen Arbeit mit jüngeren Zuhörern gemacht hat. Die CD, die der Gutenberg Kammerchor mit dem Neumeyer Consort und den Solisten Jasmin Hörner (Sopran), Julien Freymuth (Altus), Georg Poplutz (Tenor) und Christian Wagner (Bass) Mitte März für das Label Christophorus aufgenommen hat, sieht Koch daher auch als „musikalisches Hörbuch“.
Und als weiteres Etappenziel in der Beschäftigung mit einem rätselhaften Werk, in das der Dirigent über die Jahre immer mehr eintauchte. Dass er mit Karl Böhmer hier tatsächlich einen Bruder im Geiste fand, um gemeinsam weiter in das Mysterium der Markuspassion vorzudringen, bezeichnet Koch als großen Glücksfall: „Damals konnte ich nächtelang nicht schlafen und bin auch jetzt in der Vorbereitung wieder in diesen Sog geraten: mitten hinein ins 18. Jahrhundert, hin zu Bach.“