» Musik

Bachs Dramatik wird Ereignis

MAINZ (18. April 2024). Nein, an einem Karfreitag gibt es keinen Grund zu jubeln. Und doch durfte man sich just an diesem in Mainz sehr freuen: Der Bachchor ist zurück! Pünktlich zu seinem 70-jährigen Bestehen gab das Ensemble jetzt unter seinem neuen Dirigenten Christoph Siebert vor Ort sein Debüt mit Bachs Johannespassion, nachdem man das Werk einen Tag zuvor bereits in Frankfurt aufgeführt hatte.

Im Vorfeld des Konzerts berichtete der Chorleiter von einer sehr guten und warmherzigen Aufnahme von allen Seiten, gerade auch der Chorgemeinschaft. Die Interimsdirigenten Tristan Meister und Martin Winkler hätten im vergangenen Jahr Großartiges geleistet und den Klangkörper am Leben erhalten. Nun gelte es, auch mit eingeschränkten finanziellen Mitteln die gewohnte Qualität wieder zu erreichen und auszubauen. Wie leichtfüßig der Bachchor hier unterwegs ist, zeigte dieses Konzert.

Dass es mit 15-minütiger Verspätung begann, war bei weitem kein Ärgernis – ganz im Gegenteil: Die Schlange an der Konzertkasse war schlicht zu lang. Dass die Mainzer ihrem Bachchor nach langer Durststrecke die Treue halten, auch das war an diesem Karfreitag ein Grund zum Feiern. Es musizierte das Bachorchester Mainz, in dem man mit die besten Barockmusikerinnen und -musiker der Rhein-Main-Region trifft. Als Solisten sangen Sonja Grevenbrock (Sopran), Larissa Botos (Alt), Richard Resch (Tenor) sowie Christian Wagner und Maximilian Viellehner (Bass) – ein handverlesenes und wunderbar harmonierendes Quintett junger Stimmen.

Aus dem Chor heraus ist zu hören, welche Freude es bereite, mit Christoph Siebert zusammenzuarbeiten: Alles sei leichter, mit weniger Pathos und dafür mehr natürlicher Frische – eine moderne Umsetzung historischer Aufführungspraxis. Auch der persönliche Stil des Dirigenten wird als offen, uneitel und wertschätzend gelobt. Zwei Drittel der Stammbesetzung sind weiterhin dabei, neue Stimmen dazugekommen. Siebert rechnet mit einer Konsolidierungsphase von anderthalb Jahren und bezeichnet diese Zeit als „wohltuende Chor-Kur“.

All das ist hautnah zu spüren in diesem ersten Mainzer Konzert: Ein sparsames und kluges Dirigat, dem der Chor aufmerksam folgt, eine rasche Übernahme der Akzente, ein Ausleben der geforderten Affekte. Alle Beteiligten musizieren blutvoll und liefern dabei über weiteste Strecken Perfektion. Schon wie Siebert den pulsierenden Eingangschor gestaltet, packt einen unmittelbar. Und genau das ist der rote Faden, den er beständig weiterspinnt: Das Publikum wird direkt hineingezogen in Bachs Dramatik – was dem Komponisten seinerzeit übrigens durchaus angekreidet wurde, wird hier Ereignis.

Die Chorstimmen agieren souverän und werden ihrer Rolle als Motor des Geschehens mehr als gerecht: Zurückgenommen in den betrachtenden Chorälen und als wütender Mob in den Turbachören verleihen sie der Passionsmusik den von Bach beabsichtigten Erlebnischarakter. Sir John Eliot Gardiner, bei dem Siebert lernte und mit dem er verschiedentlich zusammenarbeitete, sagte: „Die Wildheit und schiere Bösartigkeit dieser Ausbrüche sind niederschmetternd, vor allem deshalb, weil sie uns alle widerspiegeln, nicht nur die Juden und Römer.“ Genau diesem Impetus folgt auch der Bachchor und zieht die vor 301 Jahren erstmals aufgeführte Johannespassion elegant ins Hier und Heute.

Ohne die hervorragende Leistung der anderen auch nur um ein Iota schmälern zu wollen, seien zwei der Solisten besonders hervorgehoben. Zum einen Richard Resch, der seine Evangelistenrolle und die Arien mit fesselnder Präsenz und Direktheit gestaltete. Sein Tenor strahlte, wohingegen Christian Wagners Bassbariton leuchtete: Er sang sowohl die Christusworte als auch seine Arien gänzlich auswendig, was der Musik eine unfassbare Freiheit schenkte – im krassen Gegensatz zum ja inhaftierten Christus. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, sagt dieser zu Pilatus.

Gleiches galt für Wagners Gestaltung: Nicht dem Publikum, sondern jedem einzelnen darin wandte er sich mit den Jesusworten zu. Sein Gesang war eigentlich eine liebevolle Umarmung, deren aufrichtige Herzlichkeit einen die Welt und alle ihren Schmerz einen Augenblick lang vergessen lassen wollte – und konnte. Ein Sänger ist ja im besten Fall auch immer ein singender Schauspieler. Christian Wagner ging an diesem Abend noch einen Schritt weiter und betonte eine Eigenart der Musik, die der Autor Eugen Ruge folgendermaßen beschreibt: „Sie dehnt den Daseinsmoment.“

zurück