Belcanto mit den Besten
MAINZ (5. November 2022). Mainz ist eine Musikstadt: Das Staatsorchester, die Dommusik, Villa Musica, das Peter-Cornelius-Konservatorium, Chöre, Orchester sowie Vokal- und Instrumentalensembles sorgen für ein blühendes Musikleben. Die meisten konzertanten Veranstaltungen werden dabei von der Hochschule für Musik angeboten. Blättert man in deren Terminkalender, wird nicht nur jeder Geschmack, sondern auch jede Epoche bedient. Aus den Meisterkursen sticht dabei die Barock Vokal Akademie heraus, denn sie ist einzigartig in der deutschen Hochschullandschaft.
Das Prinzip ist mit wenigen Worten erklärt: Namhafte Künstlerinnen und Künstler der Alte-Musik-Szene unterrichten talentierte junge Sängerinnen und Sänger in der Gestaltung barocker Vokalmusik. 2010 wurde die Akademie von Prof. Claudia Eder unter dem Namen BarockVokal gegründet. Die Idee dazu speiste sich aus der Tatsache, dass sich deutsche Opernhäuser seit den 1980er-Jahren zwar verstärkt der Barockoper widmeten, diese Epoche in der universitären Gesangsausbildung jedoch bislang so gut wie nicht stattfand. Doch ist es heute unerlässlich, dass Sängerinnen und Sänger, die ein Opernengagement antreten, nicht nur Wagner- und Verdiopern schmettern können, sondern vor allem auch die Kunst des Belcanto beherrschen. Dabei handelt es sich um die gesangliche Kunstfertigkeit und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts. Claudio Monteverdi hatte 1607 mit „L’Orfeo“ der neuen Gattung der Oper zu einer ersten Blüte verholfen. Die Mehrstimmigkeit wich dem Sologesang, an die einzelne Stimme wurde der Anspruch erhoben, der Musik in eleganter und schöner Manier sowie mit verschiedenen vokalen Farben den richtigen Ausdruck zu verleihen. Das geschieht durch die Ausgeglichenheit der Register, ein Messa di voce (das dynamische Gestalten eines Tons), die Beherrschung der Koloratur (Läufe und Sprünge innerhalb einer Arie) sowie Triller und die Fähigkeit zur Improvisation.
All das ist natürlich Teil einer jeden guten Gesangsausbildung. Die Barock Vokal Akademie nimmt für sich daher auch nicht in Anspruch, das Rad hier gänzlich neu zu erfinden: Aber sie sorgt dafür, dass es wesentlich runder läuft. Seit 2021 leitet Prof. Elisabeth Scholl die Akademie. Und endlich konnte ihr von Corona bislang verhindertes Debüt stattfinden, was im August mit drei Konzerten in Mainz und der Basilika von Kloster Eberbach mit großem Erfolg über die Bühne ging.
Hatte man sich bislang mehrmals im Jahr ganzen Opern und Oratorien gewidmet, die dann zur Aufführung kamen, hat Scholl das Konzept dahingehend geändert, dass es fortan einmal im Jahr einen Kurs gibt. Der dauert dann jedoch drei Wochen und hat ein eigenes Thema, mit dem sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer intensiv beschäftigen. 2022 waren es Arien der Komponisten Georg Friedrich Händel und Antonio Vivaldi sowie das Deutsche Barocklied und Vokalwerken von Henry Purcell. Was unbedingt beibehalten wurde, ist die Idee, dass die jungen Sängerinnen und Sänger hierbei von international anerkannten Experten der Alten Musik angeleitet werden. Die Liste der Namen, die bislang nach Mainz kamen und unterrichteten, liest sich denn auch wie ein „Who is who?“ der Szene: Andreas Scholl, Ton Koopman, Wolfang Katschner, Konrad Junghänel, Terry Wey, Jaap ter Linden, Masaaki Suzuki, Fabio Bonizzoni, Emma Kirkby, Michael Schneider, Sigiswald Kuijken, Kai Wessel – um nur einige zu nennen.
In den mittlerweile zwölf Jahren des Bestehens der heutigen Barock Vokal Akademie hat sich jedoch auch einiges getan: „Alte Musik ist präsenter geworden“, freut sich Leiterin Scholl, gibt jedoch zu bedenken: „Andererseits gibt es YouTube und hier viele Aufnahmen unterschiedlichster Qualität. Heute hören sich die jungen Sängerinnen und Sänger vieles an und vor allem leider auch ab, so dass man oft nur Imitationen großer Stimmen, aber nichts Eigenes hört.“ Das aber ist in Scholls Augen uninteressant, weil austauschbar. Die Gesangsprofessorin erinnert sich: „Als die historische Aufführungspraxis in den 1960er-Jahren aufkam und die Alte Musik sozusagen neu entdeckt wurde, musste man sich zum Beispiel in historische Quellen vertiefen und eine Interpretation und hier auch die Verzierungen selbst erschließen. Ich gehöre zu einer Generation, die also noch selbst in Bibliotheken und Archive gehen musste, um Noten aus Handschriften zu kopieren, wenn wir sie aufführen wollten. Dadurch haben wir unglaublich viel gelernt. Dieser Entdeckergeist von damals ist heute oft einem Imitieren gewichen und droht, aufgrund der digitalen Verfügbarkeit total verloren zu gehen.“
Genau dieser Gefahr will die Barock Vokal Akademie nun entgegenwirken: „Wir möchten Theorie, Wissenschaft und Praxis eng verzahnen, weshalb wir vor allem neugierige Teilnehmerinnen und Teilnehmer brauchen“, erklärt Scholl. Daher sei ein Themenschwerpunkt die Kammermusik, das Musizieren mit Generalbass. „Wir machen natürlich auch Oper. Aber eine Singstimme nur vom Continuo begleitet, das ist der Ausgangspunkt der Alten Musik.“ Und das Singen ist ja, wie Telemann schon wusste, „das Fundament zur Musik in allen Dingen“. Doch in der Akademie geht es nicht nur um den richtigen Gebrauch der Stimme: Im Gesangsunterricht geht es auch um Verzierungspraxis und Rezitativgestaltung, es gibt Auftrittstraining, Bewegungsprogramme (zum Beispiel Barocktanz und entsprechende Gestik), Sprachcoaching und Kammerkonzerte. Außerdem kommen berufsspezifische Themen zur Sprache.
Um ein Bild davon zu gewinnen, wie in den Arbeitsphasen der Barock Vokal Akademie gearbeitet wird, haben wir eine von Andreas Scholl besucht. Der Countertenor steht wie kaum ein anderer für den Belcanto und gibt einem der Teilnehmer des diesjährigen Meisterkurses im Roten Saal der HfM wertvolle Tipps. Der Bass Nicolas Ries singt Vivaldis Arie „Se il cor guerriero“. Und so, wie er das tut, klingt das eigentlich schon sehr überzeugend. Aber Scholl interveniert erstmal: Nicht zu statisch singen, eher in Bögen denken. Zur Illustration schwingt der Countertenor beim Vorsingen der Partie mit beiden Armen und weist den Bass an, es ihm gleich zu tun. Das sieht, mit Verlaub, natürlich erstmal komisch aus. Aber es hat einen Effekt: Plötzlich fließt der Gesang viel mehr. Scholl reckt den Daumen. Doch die Intervallsprünge gefallen ihm noch nicht: „Denk ein Glissando. Lass los und die Stimme einfach mal machen. Nicht soviel kontrollieren“, rät der Weltstar, eher mit dem Bauch als mit dem Kopf zu singen.
Doch an wen richtet sich ein Sänger? Ans Publikum, das aber erst in zweiter Linie: „Du musst für Dich visualisieren, wohin Du Deine Stimme führen willst. Stell Dir ein Gegenüber vor, das Du ansprichst“, rät Scholl: „Diese Person ist für alle unsichtbar, aber für Dich nicht.“ Plötzlich bekommt die Vivaldi-Arie geradezu etwas Plastisches: „Du baust dadurch ja ein kleines Bühnenbild auf.“ Musik, gerade Alte Musik, müsse auf der Bühne buchstäblich zum Leben erweckt werden, erklärt der Sänger seinem jungen Kollegen und gibt auch ganz praktische Tipps: „Immer an der gleichen Stelle atmen, das kann sonst schief gehen.“ Auch sei es wichtig, die Aufregung im Konzert einzuplanen. Derart präpariert wird der junge Bass wenige Tage später in Kloster Eberbach brillieren – und das Publikum wie den Zeitungskritiker überzeugen.
Nicolas Ries ist einer von zehn Sängerinnen und Sängern, die im August am ersten Durchgang der neu konzipierten Barock Vokal Akademie teilgenommen haben. Sie kamen aus Brasilien, Deutschland, England, Israel, Südkorea und Neuseeland. Auch dies ist ein Novum: Wer in Mainz Gesang studiert, qualifiziert sich nicht allein dadurch zur Teilnahme. Die international ausgeschriebene Bewerbung erfolgte mit Videos, aus denen Elisabeth Scholl und ihr Team dann die Besten der Besten auswählten. Da Corona in der Vergangenheit die Verdienstmöglichkeiten der Teilnehmenden geschmälert hatte und die Kursgebühren somit eine Schwelle waren, warb Scholl, die 2018 auch die Reihe der Mäzenaten-Konzerte ins Leben rief, erfolgreich großzügige Persönlichkeiten, sich als Paten der Akademieteilnehmenden zu engagieren. Die Idee der neu konzipierten Barock Vokal Akademie stößt also überall auf begeisterte Resonanz. Was 2023 angeboten wird, erfährt man im kommenden Frühjahr unter http://www.barockvokalakademie.de.