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Musikalische Grenzerfahrungen

WIESBADEN (15. November 2025). Lange Schlangen vor der Marktkirche noch kurz vor Beginn des Konzerts dokumentierten das große Interesse an der Aufführung des „Dresdner Requiems“ von Rudolf Mauersberger (1889-1971). Die Schiersteiner Kantorei musizierte gemeinsam mit dem Wiesbadener Knabenchor und Instrumentalisten des Bach-Ensembles Wiesbaden. Dirigent Clemens Bosselmann erfüllte sich mit der Aufführung der Musik des früheren Dresdner Kreuzkantors einen Herzenswunsch: Von 1994 bis 2003 war er selbst Mitglied des berühmten Knabenchors, für den Mauersberger die Musik nach der schweren Bombardierung und Zerstörung Dresdens vom 13. auf den 14. Februar 1945 als künstlerische Antwort und musikalisches Mahnen formuliert hatte.

Die Komposition ist monumental, verlangt drei Chöre: den großbesetzten Hauptchor, einen kleineren Altarchor und einen Fernchor, die über weite Strecken a cappella singen. Jeder hat hier seine Aufgabe: Der Hauptchor zitiert Bibelworte des Alten Testaments, der Altarchor Entgegnungen Christi, wohingegen der Fernchor die Seelen der Verstorbenen darstellt. Aus diesem Rollenspiel generiert sich eine Mehrchörigkeit, die durch den sparsamen Einsatz von Instrumenten eine ganz eigene Klangästhetik erhält. Dazu kommen Solostimmen – Mauersberger hatte eine dieser Partien übrigens für den neunjährigen Peter Schreier geschrieben, der damals im Altregister der Kruzianer sang und später eine sängerische Weltkarriere erlebte. An zwei Stellen ist auch die Gemeinde aufgefordert, den dort notierten Choral mitzusingen.

Das am 26. Juni 1948 gemeinsam mit der bereits 1945 komponierten Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ als „Dresdner Requiem“ aufgeführte Werk ist für die Stadt und die Kruzianer seither Teil ihrer musikalischen Identität und aus der Erinnerungskultur nicht wegzudenken. Gehört diese Musik also zum festen Repertoire des Kreuzchors und wurde von Mauersberger auf seine Hauskirche hin konzipiert, führen Chöre das anspruchsvolle Stück an anderen Orten nur selten auf. Man kann es fast schon als bittere Ironie verstehen, dass das Werk nun ausgerechnet in einer Stadt zu hören war, die von schweren Bombardements der Alliierten bewusst verschont worden war, während das benachbarte Mainz hingegen zu 80 Prozent zerstört wurde. Auch für diese Stadt mochte die tiefste Glocke der Marktkirche zwischen den beiden Werkteilen schlagen.

Gleichviel: Die Schiersteiner Kantorei und der Wiesbadener Knabenchor wagten sich im Rahmen der Bachwoche und ihres Mottos „Bach und Dresden“ an eine Wiedergabe, womit sie thematisch immerhin an die Stadt andockten. Dabei wurden sie von Clemens Bosselmann jedoch hörbar an ihre Grenzen geführt, denn von der ansonsten auch an dieser Stelle gerne goutierten Stilsicherheit des Chores war an diesem Abend wenig zu spüren und was die Intonation angeht, wähnte man sich als Hörer wie auf einem Floß, das von hohen Wellen in bedrohliche Turbulenzen geschleudert wird.

Aufgrund der diesmal eher inhomogen musizierenden Kantorei – vergleichsweise schwach besetzte Tenor- und Bassregister standen einer Übermacht an Frauen gegenüber – wurde bald deutlich, dass es den Schiersteinern nicht gelang, dieses Werk in der offenbar knapp bemessenen Probenzeit seit September zu durchdringen und es letztendlich zu dessen Beherrschung zu bringen.

In der anfänglichen Trauermotette mochte man das noch dem ungewohnten Zusammensingen von Kantorei und Knabenchor zuschreiben, merkte im weiteren Verlauf jedoch, dass eine Vierstimmigkeit zu oft zur intonatorischen Polyphonie wurde, Stimmen Zieltöne verfehlten und die Melodieführung schwammig blieb, was letztendlich auch den Hörer zeitweise orientierungslos zurückließ. Dazu kam, dass es die Kantorei versäumte, auf die Textlastigkeit mit der nötigen Genauigkeit der Diktion zu reagieren. Von den Einsätzen des Knabenchors von der Empore aus möchte man lieber gar nicht erst reden. Schade.

Dem Konzert kam letztendlich zugute, dass es im Gegensatz zu einer Bachschen Passion eine Musik präsentierte, die viele im Publikum sicherlich zum ersten Mal hörten, was auch erklären mag, dass die Aufführung aufgrund mangelnder Vergleichsmöglichkeit dermaßen stürmisch beklatscht wurde. Wer jedoch hinhörte, konnte über die offensichtlichen Mängel nicht hinwegsehen. Immerhin erlebte man vom Repertoire her eine Aufführung mit Seltenheitswert. Und so schließt diese Rezension mit den berühmten Worten des Dichters Ovid, der zu Beginn der christlichen Zeitrechnung in seinen „Briefen vom Schwarzen Meer“ formulierte: „Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas.“ Zu Deutsch: Wenn auch die Kräfte fehlen, ist der Wille dennoch zu loben.

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