Mit der Königskrone Frisbee gespielt
WIESBADEN (15. August 2012). Sie bauen klingende Brücken: Künstler wie einst der legendäre Pianist Glenn Gould oder Geiger Nigel Kennedy und heute sein Kollege David Garret oder der Harfenist Xavier De Maistre reißen mit ihren Interpretationen klassischer Kompositionen erfrischend frech die meist streng gesicherte Grenze zwischen E- und U-Musik ein. Im Wiesbadener Kurhaus war es jetzt der Organist Cameron Carpenter, der als Gast des Rheingau Musik Festivals der Königin der Instrumente keck die Krone vom Kopf zog und damit eine Runde Frisbee spielte.
Wobei es der Künstler keinen Moment lang am Respekt vor der Musik an sich fehlen lässt – höchstens vor der Orgeltradition, mit der er nach eigener Aussage gebrochen hat. Der Amerikaner bringt sein eigenes Instrument mit: eine digitale Orgel mit klassischem Spieltisch und zahlreichen Boxen. Das klingt beeindruckend, phasenweise aber auch recht steril.
In Wiesbaden gibt es – natürlich – Bach: zu Beginn das bearbeitete Präludium aus der ersten Sonate für Violoncello solo BWV 1007 mit einem gehörigen Schuss Carpenter sowie im Original Fantasia und Fuge g-moll BWV 542. Die Registrierung ist teils intelligent, teils überraschend unkonventionell, auf jeden Fall aber farbenreich, die Technik ist brillant, die Interpretation im wahsten Wortsinn erst mal berauschend. Wie (und ob) Carpenter das wohl auf einer „richtigen“ Orgel spielen kann? Denn dynamische Finessen sind zumeist der digitalen Technik geschuldet: Die digitalen Möglichkeiten, die Carpenter zusätzlich zu Agogik und Rubato hier zur Verfügung stehen, sind faszinierend, wirken in ihrer Synthetik jedoch auch befremdlich. Und sie wiederholen sich zu rasch.
Trotzdem: Arrangements von Mozarts Rondo alla turca, Liszt, Chopin, Ives, Bernstein oder die eigene Rhapsody auf ein Thema des Folk-Rockers Stan Rogers haben ihren Reiz. Wie ein Pilot agiert der Musiker in seinem registerreichen „Cockpit“ und vermeldet mit dem ersten Akkord: „Ready for take-off!“
Mal wähnt man sich auf einem Jahrmarkt, Donnergrollen klingt wie eine Detonation um die Ecke, dann scheint eine Wüstenrennmaus über die Tasten zu flitzen und bei manchem Gebimmel greift man sich erschreckt ans Jackett: Hat man das Handy auch wirklich ausgeschaltet? Carpenters Beinarbeit gleicht der eines Profi-Kickers, wenn er da über die Pedale dribbelt. Und ein bisschen erinnert er auch an den legendären Mimen Vincent Price in seiner Rolle als orgelnder Dr. Phibes.
Dass das Ganze natürlich auch ein Spektakel sein will, merkt man nicht erst dann, wenn sich der Musiker wie aus einem schnittigen Sportwagen von der Orgelbank schwingt. Die Kunst eines Cameron Carpenter hat in der Tat etwas von der Modeerscheinung Molekulargastronomie, für die eine hier tätige Köchin frank und frei einräumte: „Sie will vor allem eines sein: Show.“
Und das funktioniert nicht zuletzt durch die Exzentrik des Künstlers mit silbernem Schuhwerk, Glitzer-Leggins und fast rückenfreiem Muscle-Shirt bestens. „Die Orgel ist musikalisches Dynamit“, sagt Carpenter und fordert: „Man muss die Lunte nur entzünden.“ Den sakralen Elfenbeinturm, in dem das Instrument in der Regel seine Dienste tut, hat er zumindest für diesen Abend mit Verve in die Luft gejagt.