Pioniere der Alten Musik
WIESBADEN (5. Mai 2022). Die Motetten von Johann Sebastian Bach gehören zur – ach was: Sie sind die Königsklasse der Chorliteratur. Diese Musik bereitet Sängern und Hörern gleichermaßen unglaubliche Freude. Beides durfte man im Konzert von Cantus Coelln im Rahmen der Maifestspiele in der Marktkirche erleben.
Nun schrieb Bach seine Motetten mehrheitlich als Trauermusiken und auch über diesem Auftritt lag ein Hauch von Melancholie: Das 1987 entstandene Ensemble gibt aktuell seine Abschiedsvorstellungen – nach 35 Jahren, unzähligen Konzerten weltweit sowie über 35 CDs mit spannenden Programmen hat der Gründer und Dirigent Konrad Junghänel beschlossen, das Ensemble aufzulösen. Seinerzeit leisteten die Künstler Pionierarbeit und inspirierten zahlreiche Kollegen. Bis heute ist Cantus Coelln für viele leuchtendes Vorbild und man ist bei Weitem nicht mehr allein – auch das ohne Zweifel ein Verdienst dieses Ensembles.
Mit den Bach-Motetten erinnerten die Künstler an eine CD, die 1997 für Furore sorgte und sofort als Referenzeinspielung gehandelt wurde: solistisch besetzt und schlank begleitet auf historischen Instrumenten. Von der damaligen Besetzung sind beim Wiesbadener Konzert neben Junghänel selbst noch die Altistin Elisabeth Popien sowie Carsten Lohff an der Truhenorgel dabei. Und darüber hinaus: großartige Stimmen und engagierte Musiker, die jede der sechs – mit der Zugabe „Ich lasse dich nicht“ BWV Anh. 159 sogar sieben, also wirklich alle – Motetten Bachs zu einem berückenden Erlebnis werden lassen.
Cantus Coelln hat diese anspruchsvollen Werke zutiefst durchdrungen und bringt Bachs Genius in prachtvoller Doppelchörigkeit wie im schlichten vierstimmigen Choral überzeugend zum Klingen. Junghänel schätzt rasche Tempi, gewiss. Doch dank der Besetzung ist jedes Register gut durchhörbar, auch wenn nicht alle immer gleich präsent sind. Das mag man monieren, doch verhindern diese leichten Differenzen eben auch einen zu stromlinienförmigen Klang. In tutti vermag Cantus Coelln die Motette auf jeden Fall ohne Fehl und Tadel abzubilden.
Wenn sich beide Chöre zu den vierstimmigen Fugen vereinen, öffnet sich der Himmel – wie auch im Choral „Wie sich ein Vater erbarmet“ (BWV 225) oder in „Jesu meine Freude“ (BWV 227): „Tobe, Welt und springe; ich steh‘ hier und singe“. Da wird Bachs Glaubensgewissheit greif- und durch die Interpretation spürbar. Gerade diese Motette ist ein in Musik gefasster Katechismus, in dem die Interpreten Momente puren Glücks schenken und mit dem Choral „Gute Nacht, o Wesen“ gar ein Kunstwerk im Kunstwerk erschaffen.
In der aktuellen Besetzung gefallen die strahlenden Sopranstimmen von Magdalene Harer und Karin Gyllenhammar, die den Stücken einen besonders intensiven Glanz verleihen. Artikuliert wird stets äußerst akzentuiert, jedoch nie manieriert. Die Stücke gehören natürlich zum Repertoire der Gesangssolisten, doch klingen sie nie routiniert. So gelingen wie in „Komm, Jesu, komm“ (BWV 229) Augenblicke besonders sphärischer Dichte.
Am Ende des Konzerts ist der stehende Applaus nicht zuletzt Dank dafür, dass Cantus Coelln Zeit seines Bestehens in puncto Interpretation, Klang und Perfektion stets verlässlich war und seinem Publikum mit unvergesslichen Konzerten und grandiosen Aufnahmen tiefe Einblicke in den faszinierenden musikalischen Kosmos der Alten Musik schenkte.