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Chanticleer: nicht sauber, sondern rein

KIEDRICH (16. August 2011). Nein, es erklang weder „Am Brunnen vor dem Tore“ noch der „Lindenbaum“ – aber ein Männerchor war es schon, der da im Laiendormitorium von Kloster Eberbach sein Gastspiel gab. Und zwar ein Männerchor, nach dem man eigentlich keinen anderen mehr hören mag: Das Ensemble Chanticleer aus San Francisco hat so gar nichts von der überalteten Liedertafel; hier wird allerhöchste Kunst geboten – allerdings wirkt alles ganz unangestrengt, ungekünstelt, sondern wie selbstverständlich. Selten darf man eine solche Perfektion erleben.

Wenn sich Chormitglieder auf einer Reise beim Sightseeing in eine Kirche begeben, stimmen sie dort gelegentlich ein Ständchen an – einen Choral, eine kleine Motette, die man auswendig kann. Und wenn dieser Stegreif-Chor von hoher Qualität ist, gibt es fast nichts schöneres, als diesem Gesang zu lauschen, denn fernab aller konzertanten Konzentration singt man hier aus purer Freude an der Musik. Und ebendiese Atmosphäre herrscht auch während des gesamten Konzerts von Chanticleer, die sich einem der schönsten Themen angenommen haben und das Publikum mit ihrer „Love Story“ von Clément Janequin (1485-1558) bis Eric Whitacre (*1970) musikalisch durch fünf Jahrhunderte führen.

Das Markenzeichen von Chanticleer ist an diesem Abend eine selten zu hörende Transparenz sowie perfekte Harmonie der Besetzung aus zwölf Einzelstimmen, die den Gesamtklang ganz individuell färben. Die Gruppe singt in immer wieder wechselnden Aufstellungen: Mal im Halbrund, mal doppelchörig, mal zweireihig, mal im Kreis einander zugewandt, ja sogar wandelnd. Die Stücke der Renaissance von Claudin de Sermisy und Claude Le Jeune tragen jeweils verschiedene Ensembles als Quartett oder Quintett vor. Und man staunt und reibt sich verwundert die Ohren: Der Klang dieser Sopran-, Alt-, Tenor- und Bass-Stimmen, den man an diesem Abend hört, hören darf: Er ist nicht sauber, sondern rein.

Zu einem besonderen Genuss wird neben der Walt Whitman-Vertonung „We Two Boys Together Clinging“, einem von Steven Sametz (*1954) eigens für Chanticleer komponierter Satz, die Interpretation von Duke Ellingtons „Creole Love Call“: Hier erklingt nämlich der Originalsatz der legendären Comedian Harmonists, den Chanticleer als liebevolle Hommage intonieren und dabei sogar das Klavier von Erwin Bootz mit klimpernder Tonsilbe stimmlich umsetzen. Nicht umsonst nennt man die Jungs aus San Francisco auch als „Orchestra of Voices“.

Alles – Alte Musik wie zeitgenössische Kompositionen, Jazz wie Rockiges – klingt so federleicht, wie improvisiert im vollen Vertrauen auf den Gleichklang mit den anderen Stimmen. Eric Whitacres Segenswunsch „This Marriage“ geht einem unter die Haut und die drei Männerchöre von Richard Strauss gelingen unfassbar musikalisch: ein einziges Baden im Klang, in dem durchdringend das „Weh und Ach“ in „Vor den Türen“, das sickernde „Traumlicht“ oder im „Fröhlich im Maien“ überschwänglich die pralle Lebenslust besungen wird.

Natürlich ist der Spaß am Musizieren – im Idealfall – bei jedem Ensemble von Klasse zu hören, zu spüren. Doch Chanticleer geht weiter, hat die gesungene Musik verinnerlicht und gibt sich – ganz dem roten Faden der „Love Story“ folgend – den Klängen hin, ist schlichtweg verliebt in sie. Das gibt dieser Darbietung etwas unglaublich Sinnliches, verleiht ihr einen fast schon erotischen Impetus: Wer als Zuhörer sieht, wie sich die Sänger ansingen, anstrahlen, fühlt augenblicklich, dass sich diese Schwingungen auch auf ihn selbst übertragen: „Make just one heart the heart you sing to“, heißt es in „Make Someone Happy“, mit dem Chanticleer das Programm beendet: „Mach nur ein Herz zu dem Herz, für das Du singst.“ Das hat zweifelsohne an diesem Abend gleich hundertfach funktioniert…

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