Mit Pauken und Trompeten
MAINZ (5./9. Juli 2025). Zum ersten Mal trat das UniOrchester des Collegium musicum der Johannes Gutenberg-Universität in der Alten Lokhalle in Mainz auf. Vielleicht auch zum letzten Mal? Denn die laute Lüftung dort lässt sich offenbar nicht abstellen, so dass Pianostellen vom Gebläse glatt übertönt wurden. Sollte sich diese Spielstätte auf Dauer also als ungeeignet für klassische Konzerte erweisen, wäre dies schade: Orchester und Publikum sitzen auf Augen- und Ohrenhöhe, die Stuhlreihen sind von den ersten Pulten nur wenige Meter entfernt, so dass man den Musikerinnen und Musikern sehr nahe ist – eigentlich eine spannende Erfahrung. Man wird sehen.
Was man bereits an diesem Abend durfte, war hören: Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ in der Orchesterfassung von Maurice Ravel, dessen 150. Geburtstag die Musikwelt in diesem Jahr feiert, und „An American in Paris“ von George Gershwin. Konzertplakat und Programmheft zierte der Eiffelturm als verbindendes Element, denn der Komponist aus Übersee, der seine Eindrücke eines Besuchs an der Seine musikalisch niederschrieb, traf dort auch Ravel. Der wiederum hatte einen genauen Blick auf die klanglichen Möglichkeiten eines jeden Instruments, was seiner Bearbeitung von Mussorgskys Musik und damit dem Werk selbst eine besonders schillernde Farbe verlieh.
Das UniOrchester, in dem neben Profis aus der Reihe der Lehrenden vor allem engagierte Studierende und Laienmusiker wirken, erwies sich einmal mehr als in sich geschlossener und homogen musizierender Klangkörper. Die Soli von Harfe, Violine, Celesta oder Altsaxophon durften sich im satten Tutti spiegeln und zeichneten die von Mussorgsky nacherzählten Bilder mit nochmals schärferer Kontur als im ursprünglichen Klavierzyklus nach. Die bedrohlichen Intervallsprünge im „Gnom“, dumpf pulsierende Rhythmik im „Ochsenkarren“, dynamisch die Tuilerien und das Küken-Ballett, der wirbelnde Marktplatz von Limoge – Ravel leistete bei seiner Instrumentierung ganze Arbeit und schenkte dem UniOrchester ein facettenreiches Stück Musik, mit dem es glänzen konnte. Der letzten Satz – „Das große Tor von Kiew“ – sollte, hatte Dirigent Felix Koch vor Konzertbeginn betont, durchaus auch politisch konnotiert gehört werden: als Zeichen gegen den brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.
Lieferte das UniOrchester mit Mussorgsky bereits eine grundsolide Leistung ab, steigerte sich das Ensemble bei Gershwins „An American in Paris“ nochmal deutlich: In diesem Stück waren die Musikerinnen und Musiker sicht- und hörbar so richtig zuhause und lieferten eine geschmackvolle Interpretation dieser monumentalen Klangskizze von Paris im Jahr 1928 ab. Mag der Komponist hier durchaus klassische Formen verwenden: Sein Vokabular entstammt mit seinen synkopierten Rhythmen und Blue Notes deutlich dem Jazz seiner Zeit und verbindet den Konzertsaal mit dem Broadway.
Dass sich der vor allem für seine inspirierte Interpretation barocker Klänge bekannte Dirigent Felix Koch auch hier musikalisch höchst überzeugend auslebte, verwundert keinesfalls: Bei aller formalen Strenge eint beide stilistischen Epochen der Freiheitsdrang zur Improvisation. Und so wirkte auch die Interpretation des „American in Paris“ durch das UniOrchester wie eine frische Großstadtskizze in Noten unter anderem mit eigens für dieses Konzert geliehenen Taxihupen – ein klingendes Kaleidoskop aus Farben, Stimmungen und Rhythmen und damit eine Brücke zwischen den Welten, über die Koch seine Musikerinnen und Musiker einmal mehr mit Leichtigkeit führte.
Wenige Tage später gab der UniChor in der Christuskirche, sonst Hauskirche des Mainzer Bachchors, sein Debüt. Auf dem Programm stand mit dem Magnificat von Johann Sebastian Bach eines der genialsten Chorwerke des Thomaskantors: Auf kleinstem Raum komprimiert kann man hier Bachs Satzkunst in Chören und Arien erleben. Singt man heute historisch informiert in weitaus kleineren Besetzungen, mochte man sich anfangs vielleicht fragen, warum der für seine historisch informierte Aufführungspraxis bekannte und zu Recht gerühmte Dirigent ausgerechnet dieses Werk mit so vielen Sängerinnen und Sängern – der UniChor zählte an diesem Abend rund 120 Stimmen – musizieren wollte.
Die Antwort könnte lauten: Weil er es kann. Wobei es sich an dieser Stelle lohnt, einmal im Archiv zu blättern: Im Oktober 2012 und damit vor seinem Debütkonzert als Leiter des Collegium musicum hatte Koch ein Interview gegeben. Damals studierte er mit UniChor und UniOrchester unter anderem das „Dixit Dominus“ von Georg Friedrich Händel und erklärte: „Ich habe hier einen Chor von rund 100 Leuten, ein Orchester mit aktuell 16 ersten Geigen, 14 zweiten Geigen, acht Bratschen und acht Celli! Wir haben also eine gänzlich andere Ausgangsbasis als wenn ich einen schlank besetzten Chor und ein kleines Barockorchester zur Verfügung habe. Und somit stehen wir vor einer Riesenherausforderung, denn das interessiert im Publikum ja keinen – die wollen tolle Musik auf einem entsprechend hohen Niveau hören!“
Dass das nicht nur damals, sondern zwölf Jahre später erneut funktionierte, lag sicherlich auch daran, dass der UniChor mit dem Neumeyer Consort diesmal ein exquisites Barockensemble an seiner Seite hatte, das ihn klanglich wie stilistisch zusätzlich an die Hand nahm und durch die schwierigen Passagen des Magnificat leitete. Das hatte bereits 2022 mit Bach-Kantaten funktioniert. Und so regte die Äußerung der neben einem sitzenden Konzertbesucherin auch eher zum Schmunzeln an, die angesichts der großen Besetzung anmerkte: „Wie in den 1950ern …“. Doch weit gefehlt.
Bevor das Publikum jedoch in den ungeschmälerten Genuss von BWV 243 kam, gab es unbekannte Musik eines Bach-Zeitgenossen: Nicht zu verwechseln mit dem jüngeren Franz Ignaz Beck (1734-1809), einem Vertreter der Mannheimer Schule, wirkte Heinrich Valentin Beck (1698-1758) nach Telemanns Wechsel nach Hamburg als Kirchenmusiker in Frankfurt, wo er eher als Kopist der Kantaten seines Vorgängers denn als eigenständiger Komponist tätig war. Nur ein Werk von ihm ist gesichert erhalten geblieben und fand sich im Leipziger Bach-Archiv: die Kantate „Lasst Geigen, lasst Pfeifen, lasst Pauken erschallen“. Von Koch in wenigen einleitenden Worten als entfernt an Bachs Weihnachtsoratorium angelehnt charakterisiert, erinnert die Kantate, die Beck anlässlich der 300-Jahrfeier von Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern schrieb, eher an die schon im galanten Stil gehaltenen Kantaten und Oratorien von Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel.
Gleichviel: Es machte Spaß, dieser recht „chorlastigen“ Musik zu lauschen, die erstmals seit fast 300 Jahren wieder aufgeführt wurde. Beck täuscht mit Responspartien und Echoeffekten trotz Vierstimmigkeit eine Doppelchörigkeit vor, die der UniChor genussvoll aussang. In der Kantate besingen er und die Solisten die Erleuchtung der Menschheit durch Gutenbergs Geistesblitz und beschwören, die neue Kunst „ohne Missbrauch recht zu treiben“, auf „dass die Wahrheit herrlich prange“. Was dann in den Folgejahren bis heute mit der Druckkunst und ihrer Verbreitung angestellt wurde, steht notabene buchstäblich auf anderen Blättern, nicht selten denen der Boulevardpresse. Vielleicht kommt auch dank dieser antiquierten Sichtweise auch eine gewisse spröde Note, die diesem neu entdeckten Werk anhaftet?
Denn wie im Konzert des UniOrchesters war der zweite Auftritt des UniChors der weitaus stärkere. Dass man gerade Bachs Magnificat mit Argusohren hörte, liegt an der Genialität der Komposition und an vielen herausragenden Referenzaufnahmen oder -konzerten. Doch der Chor, der von Koch in puncto Tempi keine Sekunde lang geschont wurde, leistete hier ebenso Großes: Wendig und transparent in den Koloraturen, sauber intoniert und mit homogener Fünfstimmigkeit überzeugte der UniChor auch abzüglich der unvermeidlichen Reibungsverluste, die das Musizieren in derart großer Besetzung und mit Laiensängern mit sich bringt, auf ganzer Linie. Und gerne gibt man zu: Derart auf den Punkt hatte man BWV 243 an diesem Abend keinesfalls erwartet.
Zu diesem rundherum positiven Gesamteindruck zählte neben dem inspirierten Spiel des Neumeyer Consorts natürlich auch der Auftritt der Gesangssolisten: Emilie Jønsson und Paula Maria Müller (Sopran), Sonja Haub (Alt), Oliver Kringel (Tenor) und Will King (Bass) – junge Stimmen und allesamt klangschön, wobei es besonders das Damen-Terzett „Suscepit Israel“ sowie das Duett von Alt und Tenor „Et misericordia“ waren, die geradezu betörend schön sangen. Auch hier also von allen eine reife Leistung.
Unterm Strich aber war es vor allem einmal mehr die beachtliche Leistung der „omnes generationes“, die seit Kochs Amtsantritt 2012 so begeistert im UniChor singen, die dem Abend seine Grandezza verlieh – auch und vor allem aufgrund des umsichtigen und von positiver Energie aufgeladenen Dirigats, mit dem Koch seine Sängerinnen und Sänger auf eine historisch informierte Aufführungspraxis einschwören konnte. Wie heißt es doch im dritten Chor des Magnificat so treffend: „Fecit potentiam in brachio suo.“, zu Deutsch: „Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten.“ Auch hier verdienter Applaus, der alle Mitwirkenden in die Semesterferien verabschiedete.