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Das Fundament in allen Dingen

FRANKFURT (16. November 2025). Wenn einen die Texte der „Moralischen Kantaten“ von Georg Philipp Telemann etwas lehren, dann sind das Einsicht und Demut, unter anderem die Erkenntnis, dass man nicht alles haben kann, was man sich wünscht. Dessen wurde man just an dem Tag deutlich gewahr, an dem diese Stücke vor Ort im Konzert aufgeführt wurden, denn das begann um 17 Uhr, doch hatte man ja bereits Karten für das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms um 18 Uhr. Aber wenn man nicht alles haben kann, dann doch wenigstens ein bisschen. Und so gab es vor Brahms in der Katharinenkirche in der nur wenige Minuten entfernten Evangelischen Akademie Telemann zu hören.

Beide Konzerte eint der Fokus auf den Gesang, denn das Barockkonzert war mit Telemanns Postulat überschrieben, nach dem Singen „das Fundament in allen Dingen“ ist. Erstmals erklang in der Frankfurter Telemann-Konzertreihe des Vereins Kleine Kammermusik ein Vokalkonzert, hier mit Georg Poplutz (Tenor), Daniela Lieb (Traversflöte) und Eva Maria Pollerus (Cembalo). Besser hätte man es kaum treffen können, denn gerade Poplutz ist ein Meister darin, barocke Klänge so frisch und brillant zu intonieren, als wäre die Musik von heute. Tatsächlich sind die gesungenen Texte der „Moralischen Kantaten“ tagesaktuell: Es geht um Glück und Hoffnung – statt moderne Ratgeber zu wälzen reicht es oft schon, Musik der alten Meister zu hören: Die bringt es eher auf den Punkt als so mancher Motivationstrainer.

Poplutz setzt nicht nur auf Stimmschönheit, sondern weiß auch um die Wichtigkeit des gesungenen Textes, wodurch seine Arien stets eine anregende Doppelbödigkeit erhalten. Wenn er Worte wie „fröhlich“ oder „scherzen“ singt, dann klingt das nicht nur so, sondern wird in diesem Moment Ereignis. Wunderbar auch seine beiden Partnerinnen, die aus ihrer begleitenden Rolle heraustreten und sich ebenfalls „singend“ an der kleinen Kantate „Die Zufriedenheit“ TWV 20:29 beteiligen. Auch im ersten D-Dur-Konzert aus „VI Concerts et VI Suites pour le Clavessin et la Traversiere, etc.“ TWV 42:D6 wird „gesungen“: mit Echoeffekten, dialogisierend im Allegro, einem nachdenklichen Largo oder extrovertiert und tänzerisch im finalen Vivace.

Doch die Uhr tickt und Brahms ruft. Leider kann man die weiteren „Moralischen Kantaten“, eine Suite und vor allem die Auswahl aus Telemanns „Singe-, Spiel- und Generalbaßübungen“ nicht mehr hören – zu gerne hätte man erlebt, wie Poplutz den pointierten Reimmarathon in „Seltenes Glück“ interpretiert. Aber der vorgezogene Abschied von der einen großen Stimme wird von der Vorfreude auf eine andere gelindert: Die Basspartie im „Deutschen Requiem“ singt Bassbariton Klaus Mertens.

Ortswechsel: In St. Katharinen an der Hauptwache hat Markus Stein fürs Erste die Leitung der örtlichen Kantorei übernommen und gibt mit Brahms sein Debütkonzert – wenn man die Reaktionen des Publikums und seiner Sängerinnen und Sängerinnen vorwegnimmt, wären die Verantwortlichen schlecht beraten, würden sie Stein diese Aufgabe nicht dauerhaft übertragen.

Doch der Reihe nach: Das bestens besuchte Konzert beginnt mit dem von Senior Organist Martin Lücker auf der Rieger-Orgel gespielten Choral Nr. 2 h-Moll von César Franck. So wie das Orgelwerk seines Zeitgenossen Brahms stark an Johann Sebastian Bach erinnert, zitiert auch der Franzose den Thomaskantor, hier mit dessen berühmter Passacaglia. Die Musik endet in konzentrierter Stille und leitet somit elegant zum „Deutschen Requiem“ über. Das erklingt jedoch nicht in der gängigen Version mit Orchester, sondern in der von Brahms selbst gesetzten Fassung für zwei Klaviere, zu denen der Komponist Heinrich Poos die im Orchester ohnehin gesetzten Pauken hinzufügte. Das Ergebnis ist ein transparenter Satz, der die musikalischen Linien des Orchesters nachzeichnet und somit eine neue Perspektiven auf das Werk zulässt.

Der Chor, ohnehin der wichtigste Protagonist an diesem Abend, ist hier noch mehr gefragt, kann er sich doch nicht am großen Orchester orientieren (oder etwaige Mängel dahinter verstecken). Die Kantorei St. Katharinen singt engagiert und verlässt den intonatorischen Toleranzbereich nicht zu oft, da sich die Stimmen immer wieder an den Klängen der von Britta Elschner und Tomoko Ichinose einfühlsam gespielten Konzertflügel justieren. Nur zum Schluss hin hört man, dass das „Deutsche Requiem“ durchaus ein kräftezehrendes Werk ist. Ansonsten beseeltes Musizieren und Aufgehen in den wundervollen und Trost spendenden Klängen, die Brahms der Musikwelt mit seinem Requiem schenkte.

Bemerkenswert ist Markus Steins Dirigat: Der auch andernorts als Chorleiter routinierte Musiker ist mit den Blicken stets bei seinen Sängerinnen und Sängern, spricht sie mimisch und gestisch direkt an. Seine Forderungen sind klar und deutlich erkennbar, sein Fingerzeig nicht zu übersehen oder misszuverstehen. Man hört deutlich, dass der Dirigent in kürzester Zeit einen glühenden Draht zur Kantorei gefunden hat. Und man sieht, welche Freude es allen bereitet, gemeinsam in die Musik einzutauchen.

Drei weitere Solisten sind an diesem Abend zu goutieren: Tobias Kästle schafft mit seinem Paukenspiel das perkussive Gerüst der Aufführung. Die Gesangssoli werden von Klaus Mertens und Sopranistin Nike Tiecke gestaltet. Beide korrespondieren in ihren Partien gefühlvoll mit den Chorstimmen, was diese ihrerseits zusätzlich sensibilisiert. Und diese Interpretation setzt Maßstäbe: Gehen Kollegen die Stücke mit Kraft und mächtig Vibrato an und interpretieren die Musik eher opernhaft und damit missverständlich, gefällt vor allem Mertens durch gesangliche Linie und Melodieführung, die in der Begleitung durch die beiden Klaviere eher den kammermusikalischen Gestus eines intimen Liederabends erhält – ein echtes Erlebnis, das auch Tiecke gefühlvoll mitverantwortet.

Nach dem Schlussapplaus in St. Katharinen ist klar: In beiden Konzerten standen die Stimmen im Vordergrund. Um die Klammer zu schließen, sei daher nochmals Telemann zitiert – und zwar die Texte der beiden Arien seiner „Moralischen Kantate“ mit dem schönen Namen „Ton-Kunst“, die Georg Poplutz an diesem Abend ebenfalls gesungen hatte und die wunderbar zu beiden Konzerten passen: „So fort, Ihr angestimmten Töne, erklinget und dringet in Sinnen und Geist. Dem gönn ich kaum die Ohren, der scheint nur aus Eisen und Felsen geboren, den Eure Macht und Schöne in kein Entzücken reißt.“ Und schließlich: „Nun lustig voran, Ihr erweckende Saiten! Ich hüpfe mit Herz und Gedanken schon nach. Ihr wisst mich nach Eurem Gefallen zu leisten und wider so holde Bezwinger zu streiten, sind Kummer und Sorgen und Grämen zu schwach.“ Manchmal kann man nicht alles haben, bekommt es aber dann doch irgendwie.

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