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Das Mysterium der Schlichtheit

HANNOVER (11. Dezember 2018). Prof. Jörg Breiding erklärt im Interview die spannende Entdeckung der längeren Fassung von Andreas Hammerschmidts Motette „Machet die Tore weit“ – und warum er sie für das Original hält.

Herr Professor Breiding, was fasziniert Sie an der Musik von Andreas Hammerschmidt?

Jörg Breiding: Sie ist leicht zugänglich und verständlich, ohne einfach zu sein. Heinrich Schütz schätzte sie hoch und es ist ja kein Zufall, dass die Motette „Machet die Tore weit“ eigentlich zum festen Bestandteil eines Chorrepertoires und weihnachtlichen Konzertprogramms gehört. Hammerschmidt schrieb als Kirchenmusiker Musik für den liturgischen Gebrauch. Seine Musik erklang im Gottesdienst. Auch unsere Jungs singen diese Motetten gern, weil sie den Zusammenhang von Text und Musik schnell begreifen und daher auch glaubwürdig wiedergeben können. Die Gesamtausgabe von Kamprad eröffnet Chorleitern und Sängern einen reichen Schatz, den es zu heben gilt. Dass das dann auf offene Ohren stoßen kann, zeigt die begeisterte Rezeption unserer Beschäftigung mit Hammerschmidts Musik.

Was dachten Sie, als Sie die längere Fassung von „Machet die Tore weit“ entdeckten?

Breiding: Ich bin ihr eher durch Zufall begegnet und fragte mich: Warum hat das in der Vergangenheit eigentlich keiner wahrgenommen? 2014 nahm Katharina Bäuml mit der „Capella de la torre“ diese Fassung zwar in einer Besetzung für Instrumentalensemble und zwei Singstimmen auf, doch die Chorwelt hat offensichtlich keine Notiz davon genommen, dass ein von ihr so geliebtes Stück in einer weiteren und – das wissen wir jetzt – originalen, längeren Fassung existiert. Eine zweite Frage, die sich mir aufdrängte, war: Wer hat die Motette so gekürzt? Und vor allem: Warum hat er das getan? Denn musikalisch ist ja die längere Version viel logischer, weil die anders besetzten Einsätze ungleich eleganter geraten sind.

Welche Unterschiede gibt es zwischen der bekannten, kürzeren und der längeren Fassung?

Breiding: Stilistische und textliche. Hammerschmidt benutzt zur Wiederholung bestimmter Sequenzen gleich zu Beginn und im Folgenden ein Echo. Dann wurde im Mittelteil ein ganzer Satz gestrichen, was auch zu harmonischen Änderungen führte. So setzt beispielsweise der Bass mit dem „Hosianna“ bislang recht unvermittelt ein, sodass man das Gefühl hat, hier würde etwas fehlen. Was ja auch der Fall war, wie die längere Version deutlich zeigt. Gegenüber der kürzeren mit ihren nur 78 Takten hat die nun vorliegende fast einhundert Takte mehr. Dadurch werden die in der und durch die Musik getätigten Aussagen viel intensiver und musikalisch logischer vermittelt.

Das Stück liegt ja nun in gedruckter Form vor. Was beinhaltet der 13. Band der Kamprad-Gesamtausgabe?

Breiding: Ganz wunderbare Stücke, die sich auch hervorragend für den liturgischen Einsatz eignen. Es sind in meinen Augen die reiferen Stücke Hammerschmidts. Motetten wie „Nun komm, der Heiden Heiland“, „Sei willkommen, Jesu“, „Ach Jesu, stirb“ oder „Schaffe in mit Gott“ sowie ein Magnificat und eben auch die ungekürzte Fassung von „Machet die Tore weit“. Man kann die in diesem Band versammelten „Fest- und Zeitandachten (1671)“ durchaus als Schwanengesang Hammerschmidts auffassen.

Was kennzeichnet diese späteren Werke?

Breiding: Ein Merkmal dieser Musik – und hier kann gerade „Machet die Tore weit“ als Beispiel dienen – ist ein starkes Sequentieren. Vieles wird wiederholt, so dass es einem fast schon übertrieben vorkommen mag. Die frühere, ungekürzte Variante ist ja mehr als doppelt so lang wie die heute aufgeführte. Die Rezeptionsgeschichte zeigt, dass die Werke vieler großartiger Komponisten zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind. Insofern ist die Hammerschmidt-Gesamtausgabe ein echtes Geschenk für Dirigenten und Chöre. Seine Musik ist eingängiger als die seiner Zeitgenossen und spricht den Zuhörer wie den Ausführenden gleichermaßen direkt an. Er bleibt nicht beim Virtuosen der Polyphonie, ihm geht es um eine verständliche Textausdeutung. Hier gibt es noch viel zu entdecken. Die Beschäftigung mit „Machet die Tore weit“ ist ein weiterer, spannender Schritt, denn hier ist es gelungen, etwas eigentlich sattsam Bekanntes ganz neu zu beleuchten.

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