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Passion im Opernton

MAINZ (26. März 2023). Wer bitteschön ist Georg Anton Kreusser? Der Konzertmeister am Hof des Mainzer Kurfürsten hat noch nicht mal einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Bei YouTube finden sich immerhin ein paar Videos des Ensembles Infusion Baroque mit Instrumentalmusik. Kreusser, der zwischen 1746 und 1810 lebte, war nicht unproduktiv, hab aber im kollektiven Bewusstsein kaum Spuren hinterlassen. Das änderte jetzt das Passionskonzert im Mainzer Dom: Domkantorei- und Orchester, die Solisten Julia Sophie Wagner, Johannes Mayer und Christoph Prégardien führten unter der Leitung von Domkapellmeister Karsten Storck das Oratorium „Der Tod Jesu“ auf und schenkten dem Publikum ein faszinierendes Konzerterlebnis.

Zugegeben: Der Ton der Ouvertüre verstört ein wenig, denn nach getragenen Tönen klingt das Ganze doch zu heiter für die Handlung. Die jedoch wird im Folgenden spannend und durchaus ergreifend erzählt. Das Libretto „Der Tod Jesu“ von Karl Wilhelm Ramler bringt man heute vor allem mit dem gleichnamigen Passionsoratorium von Carl Heinrich Graun (1704-1759) in Verbindung. Ein Fehler, denn es diente neben Kreusser auch anderen Komponisten als Vorlage: Bach-Sohn Johann Christoph Friedrich schrieb darauf eine Kantate und Georg Philipp Telemann 1755 ein Oratorium.

Dass Kreussers „Der Tod Jesu“ im Mainzer Dom erklingt (und später bei Rondeau Production auf CD erscheinen wird), ist der Dr. Uwe Baur und Jutta Truber-Baur Musikstiftung zu verdanken. Sie will die Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft für mittelrheinische Musikgeschichte unterstützen und hat als solche die Edierung des Oratoriums ermöglicht. Georg Anton Kreusser schrieb „Der Tod Jesu“ als Kapellmeister am kurfürstlichen Hof zu Mainz anno 1783. Der Text Ramlers ist ein Beispiel für den empfindsamen Tonfall, was Kreusser nun für einen angeregten Evangelienbericht nutzt, ohne die Bibel zu zitieren: Erzählt wird in eigenen Worten, wobei – anders als bei Kollege Graun – der Verzicht auf jegliche Choräle Vergleiche zu gängigeren Passionsmusiken glücklicherweise nahezu ausschließt. Auch ist Grauns Werk selbst nicht so geläufig, so dass man hier in den Genuss eigenständiger Musik kommt.

Und die hat es in sich: Oft trifft sie den Ton der Oper, Arien und Chöre sind anspruchsvoll, aber zu meistern. Und das tut die Domkantorei mit packendem Engagement. Intonation und Diktion stimmen, man musiziert Seite an Seite mit dem Domorchester, das sich spürbar in die unbekannten Klänge hineinfühlt. Domkapellmeister Karsten Storck hat beide Klangkörper exzellent vorbereitet. Eine Referenz gibt es ja nicht, was die Leistung der Interpreten nochmals steigert.

Die Solisten haben die gleiche Herausforderung angenommen und liefern meisterhaft! Der Sopran Julia Sophie Wagners ist eine einzige Wonne: Mit eleganter Leichtigkeit schwingt sie sich in höchste Höhen, doch immer meint man, die Grenze sei noch nicht erreicht. Nie schrill, dafür blutvoll und zupackend singt Wagner ihre schwerelosen Koloraturen glockenhaft und mit punktgenau dosiertem Vibrato – die Partien scheinen dieser Sängerin wie auf den Leib geschrieben. Auch Johannes Mayers Rezitative und Arien gelangen kraftvoll zupackend und mit schöner Stimmführung strahlend und energiegeladen. Wie der Tenor in „Ihr weicht geschaff’nen Seele“ das Wort Schmerz gestaltete, trifft einen unmittelbar. Schließlich Christoph Pregardién: Geschmackvoll und gediegen gibt er seinen Partien eine ansprechende Mixtur aus barockem Ton und Opernbariton, wenn er in der Arie „Du Held, auf den die Köcher“ oktavierend in die „Abgründe“ hinabsteigt. Glücklich, wer eine solche Wiederuraufführung gestalten darf (und sie derart berückend singen kann).

Kreussers Ton ist originell, sein Erzählstil flüssig, die Musik reich an Einfällen. Zwar erscheint es nicht überraschend, wenn beim „Herz, das aus seinen Höhlen fliegt“ die Streicher nach oben wirbeln und bei „Bis in den Tod“ in die Tiefe stürzen – aber so agil, wie das Mainzer Domorchester hier musiziert, bekommt das Oratorium fast schon etwas Plastisches und wieder scheint die Oper durch. Im Chor „Christus hat uns ein Vorbild gelassen, auf dass wir sollen nachfolgen seinen Fußstapfen“ scheinen die Stimmen von überall herbeizuströmen und bei „Unsere Seele ist gebeuget zu der Erden, o wehe, dass wir so gesündigt haben“ folgt auf den ruhigen Satz Drama pur, wobei Storck am Schluss den Hall des Doms gekonnt in Szene setzt. Als Jesus in Ramlers Dichtung stirbt, setzt Kreusser mit einem gebrochenen Theorbenakkord einen markanten Schusspunkt der Szene – es sind solche Momente, die noch lange nachhallen.

Was für die erst jüngst hier besprochene Aufführung der Matthäuspassion von Gottfried August Homilius in Wiesbaden gilt, trifft auch auf Kreusser zu: Bachs Passionen werfen einen zu großen Schatten und es ist mehr als löblich, andere Oratorien aufzuführen und wieder zu entdecken. Das eine zu tun (Bach), sollte, ja darf nicht heißen, das andere zu lassen (Kreusser & Co). Und wenn sich ein so herausragender Laienchor wie die Mainzer Domkantorei daran macht, ein solches Werk zu pflegen, verdient das ebenso großen Beifall wie das Leipziger Label Rondeau Production, das dieses Konzerterlebnis auf CD bannen wird: bestimmt kein Selbstläufer oder Kassenschlager, aber ein Geheimtipp für alle, die einen höchst lohnenswerten Blick über den Bachschen Tellerrand werfen wollen.

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