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Gottesdienst statt Konzert

MAINZ (20. Dezember 2015). In den drei Jahren, in denen Karsten Storck nun schon das Amt des Domkapellmeisters innehat, konnte er bereits beachtliche konzertante Akzente setzen: 2013 die Johannespassion von Arvo Pärt, 2014 die Marienvesper von Claudio Monteverdi oder in diesem Jahr das Oratorium „In terra pax“ von Frank Martin und die Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Das Weihnachtsoratorium des Thomaskantors wollte Storck vor allem als Geschenk an das treue Mainzer Publikum verstanden wissen: Für das letzte Domkonzert des Jahres hatte man kaum werben müssen – es war frühzeitig restlos ausverkauft.

Unzählige Zuhörer im Publikum also – und überraschend viele Aufführende im Chorraum: Obwohl die gängige Aufführungspraxis aktuell vor allem auf schlanke vokale Klangkörper setzt, hatte sich Storck bewusst für die Mitwirkung aller am Dom singenden Chöre entschieden. Ein Wagnis, sicherlich – aber eben auch eine Herausforderung an alle Stimmen, trotz Masse auch Klasse zu zeigen. Auch wenn der Hörer anfangs gegen die bei Bach heute ungewohnten Klangwellen ankämpfen und seine Orientierung finden musste, gelang dies überraschend schnell, zumal Storck die Tempi auch innerhalb einzelner Stücke variierte und sie so in immer wieder wechselndes, klangfarbiges Licht tauchte.

Bei den Solisten löste Christian Rathgeber die Herkulesaufgabe, die Evangelisten-Partie und die Arien gleich überzeugend zu gestalten: Sein Tenor hat mittlerweile eine schlanke Brillanz von silbrig-strahlender Kontur, mit der er mühelos sowohl den Erzähler als auch den Betrachter gibt. Die Rolle des Evangelisten, hier unaufgeregt und doch nicht ohne Empathie, kann man sicherlich auch anders gestalten, sollte es aber nicht. Harald Martinis Bariton hat eine faszinierende Spannkraft, die seiner Interpretation den Nachdruck einer überzeugenden Predigt gab. Der Alt Gudrun Pelkers klang wohltemperiert, Inga-Britt Andersson und vor allem Victoria Braum (beide Sopran) komplettierten das erlesene Quintett.

Festlicher Glanz in den Chören, beschauliche Andacht in den Chorälen, angesichts der „Vielstimmigkeit“ größtmögliche Genauigkeit in Intonation und Diktion, Homogenität der Stimmen mit dem Mainzer Domorchester – es waren vor allem die kleinen Effekte, die ergreifende Wirkung erzielten. Stellvertretend sei der schöne Einfall angeführt, mit dem Storck in Kantate VI das Publikum einlud, nach dem in faszinierendem Pianissimo a cappella gesungenen Choral „Ich steh‘ an Deiner Krippen hier“ weitere Strophen mitzusingen.

Dies rief dem Zuhörer ins Bewusstsein, dass Bach mit seinen Kantaten keine Konzertmusik, sondern Klänge für den Gottesdienst komponiert hat. Und so bleibt einem das erste von Domkapellmeister Karsten Storck dirigierte Weihnachtsoratorium in schöner Erinnerung: als ruhige, unaufgeregte Einladung, über das Wunder der Menschwerdung Gottes nachzudenken – angesichts so mancher allzu glattgebügelter Interpretation von Profichören aus der Champions-League tatsächlich ein Geschenk.

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