Polyphone Klangfülle ohne Grenzen
BOPPARD – Im heutigen Wirtschaftsleben ist es eher ein Grund, die Korken knallen zu lassen, wenn ein Konkurrent, ein Mitbewerber ins Gras beißt oder wenigstens Insolvenz anmeldet. Die Komponisten der Renaissance hingegen schrieben tief erschüttert Trauergesänge auf ihre verstorbenen Kollegen. Eine solche Déploration stellte jetzt das Ensemble Cinquecento an den Schluss seines RheinVokal-Konzerts in der Karmeliterkirche zu Boppard.
„Legt eure Trauerkleider an, / Josquin, Piersson, Brumel, Compère, / Und weint viele Tränen; / Ihr habt euren lieben Vater verloren.“ So lauten die letzten Zeilen der Déploration sur la mort d’Ockeghem „Nymphes des bois“, die Josquin Desprez auf den verehrten Meister schrieb. Das Ensemble Cinquecento – Terry Wey und Jakob Huppmann (Countertenor), Tore Tom Denys und Thomas Künne (Tenor), Tim Scott Whiteley (Bariton) und Ulfried Staber (Bass) – stimmen diese Totenklage in der gotischen Doppelkirche an und man spürt den Kummer unmittelbar.
Und das liegt nicht nur an dieser Komposition, einem meisterhaften Zusammenklang aus Deklamation und bewegenden Akkorden: Es ist das bemerkenswerte Spannungsfeld, das die sechs Stimmen in vollkommener Harmonie aufbauen. Jeder der Sänger verfügt über einen Stimmumfang, der ihn mühelos auch außerhalb seiner eigentlichen Höhe oder Tiefe agieren lässt. Jede Vokalise klingt unglaublich zart, perfekt gemischt.
In der Polyphonie vermag man der Einzelstimme nicht zu folgen, ohne sich im anrührenden Klangreichtum dieses akustischen Labyrinths zu verlieren. Es funkelt wie in einem Kaleidoskop, durch das man in den von Licht durchfluteten Himmel blickt: Keine Stimme hört man heraus, jeder Sänger findet sich passgenau im homogenen Gesamtklang wieder. Und das gilt nicht nur für die mehrstimmigen Kompositionen, sondern vor allem auch für die Gregorianik im De Profundis von Desprez und den entsprechenden Sätzen im Requiem von Jean Richafort (~1480-1547).
Die Musik Richaforts ist stark auf Klangwirkung ausgerichtet – eine Herausforderung, der sich das Ensemble Cinquecento wie selbstverständlich stellt: Sie beherrschen jene große Kunst, den Gesang, der doch selbst eine hohe Kunstfertigkeit verlangt, so klingen zu lassen, als wäre es „nichts Besonderes“. L’art pour l’art? Eher die völlige Hingabe an die Musik, die dem Gesungenen auf beeindruckende Weise eine Gewissheit unterstellt: Die Totenklage wirkt ebenso intensiv wie Desprez‘ Miserere und natürlich das Requiem.
Das „intuitiv uneilige Tempo und die damit einhergehende ausgreifende Linienführung“ sowie „das gekonnt labile Gleichgewicht von Konsonanz und Dissonanz“ sind laut Paul van Nevel, dem Leiter des Huelgas Ensembles, das dieses Werk eingespielt hat, hervorstechende Merkmale des Requiems. Das Ensemble Cinquecento ist indes nur halb so stark besetzt – und klingt doch unglaublich kraftvoll, ohne auch nur einen Augenblick akustisch die Muskeln spielen zu lassen.
Richaforts Requiem wird in diesem Konzert von zwei Chansons – den „Fault d‘argent“ von Desprez, einem Abgesang auf den schnöden Mammon und „Mort, tu as navré de ton dart“, einer Déploration auf Gilles Binchois von Johannes Ockeghem – durchbrochen. Der immer wiederkehrende Vers, der die „Schrecken des Todes“ und „die Qualen der Hölle“ besingt, wirkt wie eine Vertonung des „Jüngsten Gerichts“ von Hieronymus Bosch.
Und dann schließt das Konzert mit dem „Nymphe des bois“ von Desprez: „Requiescat in pace – Möge er in Frieden ruhen.“ Wie auch schon in den innig erlebten Augenblicken zuvor setzen die Sänger des Ensembles Cinquecento den Titel des Konzerts mit atemberaubener Wirkung um: Lux aeterna – das ewige Licht. Hier wird Unendlichkeit fassbar.
SWR2 sendet einen Konzertmitschnitt am 1. November 2009 ab 20 Uhr im Abendkonzert.