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Für die Knabenchöre ist es fünf vor zwölf

WINDSBACH/MAINZ (15. November 2020). Am vergangenen Samstag erhoben 46 Knabenchöre aus Deutschland, Österreich und der Schweiz unter #KulturGutKnabenchor in den sozialen Netzwerken mit einem digitalen Flashmob gemeinsam die Stimme. Ihr gesungenes Motto: Viva la musica! Denn auch sie leiden unter den Corona-Regelungen, die Konzerte verhindern und ihnen das Proben verbieten. Initiatoren dieser Aktion waren der Windsbacher Knabenchor, die Regensburger Domspatzen, der Tölzer Knabenchor und die Augsburger Domsingknaben.

Knabenchöre, so die Argumentation, könnten auf eine teils jahrhundertealte Tradition zurückblicken, seien ein besonderes Kulturgut und als Teil des internationalen musikalischen Netzwerks kaum mehr wegzudenken. „Vor allem das Singen in der Gruppe fördert Sozialkompetenz, Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen“, unterstreicht Martin Lehmann, Dirigent der Windsbacher. Hierfür wird an den jeweiligen Ausbildungsstätten engagiert gearbeitet. Doch seit Corona ist das unmöglich. Machbar war in den vergangenen Wochen und Monaten höchstens, was regionale Hygienekonzepte erlaubten: Musikalische Arbeit fand in Kleinstgruppen statt – und mit mindestens zwei Metern Abstand zwischen den Sängern. Für den Großteil der Knabenchöre bedeutet die Pandemie Stillstand, wenn nicht gar Rückschritt: Ohne regelmäßiges Training ist Leistung nicht zu halten.

Die Absage von Konzerten ist indes nicht nur für Freunde des kultivierten Chorgesangs schmerzlich: Wie jeder Künstler braucht ein Knabenchor sein Publikum – nicht zuletzt aus Gründen der Selbsterhaltung, denn jeder Auftritt ist natürlich auch Reklame. Corona hat darüber hinaus die Möglichkeit der Nachwuchswerbung auf ein Minimum reduziert: Tage der offenen Tür oder schulische Talentsuche? Aktuell Fehlanzeige, denn Singen ist dort ja ebenfalls verboten. Schnupperproben, wie sie beispielsweise der Wiesbadener Knabenchor im September und Oktober angeboten hatte, brachten dort zwar ein paar Neuzugänge, doch blieben diese hinter den sonst üblichen Zahlen, informiert Dirigent Robert Twardy.

Die aktuelle Situation ist daher eine ernst zu nehmende Bedrohung für das künstlerische Selbstverständnis eines ganzen Genres. Und es gibt weitere Warnzeichen: Aufgrund des fehlenden musikalischen Trainings setzt der Stimmbruch bei vielen früher ein. Und jüngere Sänger rücken nicht mehr in gewohnter Stärke nach, wodurch eine Lücke entsteht, die die kontinuierliche Ausbildungsstrategie der Chöre schwächt. Auch darauf wollte die Aktion #KulturGutKnabenchor aufmerksam machen: Bewusst fand der digitale Flashmob am 14. November um Punkt 11.55 Uhr statt: fünf vor zwölf.

In der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt leidet auch die Arbeit von Domkapellmeister Karsten Storck unter den Corona-Regeln: Auch der Mainzer Domchor war Teilnehmer der Online-Aktion. Dort heißt es ebenfalls momentan „Chor tacet“. Auftritte und Reisen nach Brasilien und St. Petersburg wurden sämtlich abgesagt. „Ich habe mittlerweile zwei komplette Corona-Jahrgänge, die noch nie ein Konzert gesungen haben“, beschreibt der Chorleiter die Situation: „Und die Älteren gehen in den Stimmbruch, ohne ihr Wissen an die jüngere Generation weitergeben zu können.“

Sollten Proben wieder möglich sein, hofft Storck, mit wenigen Knaben- und Männerstimmen zumindest den liturgischen Dienst im Dom versehen zu können. Aktuell hat er die Ausbildung in Mainz umgestellt: Statt zu singen wird die nötige musiktheoretische Ausbildung vorgezogen und Rhythmus, Notenkunde sowie Intervallempfinden geübt. Hierfür hat Storck eigens Instrumente angeschafft – dank einer Spende der örtlichen Sparkasse, die sich für diese Musikförderung begeistern ließ. Dennoch weiß der Dirigent: „Dadurch, dass man nicht singen kann, geht unglaublich viel Ausbildungsarbeit verloren.“

Damit Corona keinen allzu großen Schaden anrichtet, wandten sich die deutschsprachigen Knabenchöre mit der Aktion #KulturGutKnabenchor an die Öffentlichkeit und warben in teils professionell gestalteten und aussagestarken Videos für sich und ihr Tun. Am dramatischsten gelang dies wahrscheinlich den Jungs der Wuppertaler Kurrende: In einem Konzertmitschnitt verließ während einer gesungenen Version des Tears-for-Fears-Songs „Mad World“ wie bei Haydns „Abschiedssinfonie“ ein Knabe nach dem anderen die Bühne. Die Botschaft: Gerade in dieser verrückten Welt kommt es derzeit auf jede Stimme an.

#KulturGutKnabenchor
Unter diesem Schlagwort haben sich 46 Knabenchöre vereint, um in den sozialen Netzwerken für ihre Arbeit zu werben. Googelt man es, erhält man Links zu den Videobeiträgen der verschiedenen Teilnehmer. Dieser Zusammenschluss einer gesamten musikalischen Szene ist bislang beispiellos: Die Knabenchöre zeigen, dass sie auch in schwierigsten Zeiten solidarisch und mit Durchhaltevermögen die Freude am Singen fördern und neue Sänger gewinnen wollen. Als Schirmherr der Aktion konnte Malte Arkona gewonnen werden: Der Schauspieler und Synchronsprecher moderiert die Kindersendung „Tigerenten Club“ (ARD/KiKa).

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