Altbekanntes neu entdeckt
MAINZ (11. Dezember 2018). Andreas Hammerschmidt (1612-1675) geht es nicht besser als anderen großen Komponisten: Zu ihrer Zeit gefeiert und gerühmt – kein Geringerer als Heinrich Schütz schrieb ein Loblied auf den gebürtigen Zwickauer – stehen sie heute doch zu oft im Schatten der noch größeren Kollegen. Hammerschmidt war Kirchenmusiker und schrieb seine Werke eher für kleinere Kantoreien denn für luxuriös besetzte Hofkapellen. Von ihm stammt die berühmte Motette „Machet die Tore weit“. Und hier gibt es spannende Neuigkeiten.
Der Knabenchor Hannover ist ein Ensemble, dass sich seit jeher auch der Pflege des Hammerschmidtschen Werks verschrieben hat: Chorgründer Heinz Hennig nahm als erster 1998 eine CD ausschließlich mit dessen Werken auf und 2005 widmete auch der amtierende Künstlerische Leiter Jörg Breiding Hammerschmidt einen weiteren und viel beachteten Tonträger, wofür die Knaben seinerzeit sogar den „KlassikEcho“ erhielten.
„Dieser Komponist wird oft als Kleinmeister behandelt, weil seine Musik weitaus leichter verständlich und zugänglicher ist als beispielsweise die seines Zeitgenossen Schütz. Doch das ist er nicht“, versichert Breiding, der sich nicht erst seit Erscheinen der Hammerschmidt-Gesamtausgabe in der Verlagsgruppe Kamprad mit dieser Musik auseinandersetzt. Inzwischen ist mit den „Fest- und Zeitandachten (1671)“ Band 13 auf dem Markt. Und doch ist es vor allem ein Werk, durch das Hammerschmidt in den Konzerten und Repertoires von Chören und Kantoreien landauf landab präsent ist: die Motette „Machet die Tore weit“ – ein dreigeteiltes Stücklein Musik, nur 78 Takte lang; oder besser gesagt kurz.
Vor einiger Zeit stolperte Breiding im Internet über eine weitere Fassung dieses Stückes: 172 Takte lang und mit einigen kompositorischen Finessen sowie Versen versehen, die die bislang bekannte Version verschwieg. Anfangs registrierte dies der Chorleiter eher verwundert, speicherte die Datei ab und schenkte dem Phänomen erst mal keine größere Bedeutung, zumal er selbst betont, dass man solchen Quellen aufgrund der oft fehlenden wissenschaftlichen Aufbereitung ohnehin kritisch gegenüberstehen sollte. In der Kamprad-Gesamtausgabe stieß er nun jedoch erneut auf diese Version – nun aus sicherer Quelle weil wissenschaftlich ediert. In einer Fassung für Solostimmen (Sopran und Tenor) und Instrumente hat sich ihr bereits das Ensemble „Capella de la torre“ unter der Leitung von Katharina Bäuml angenommen und das Stück 2014 für seine CD „Ein Kindlein an der Wiege“ (dhm) aufgenommen. Als Chor werden allerdings die Knaben aus Hannover die ersten sein, die es für eine CD einsingen.
Die neu entdeckte Lesart birgt so manche Überraschung: So beginnt die Motette mit einem Echo: „Machet die Tore weit“ wird in allen sechs Registern wiederholt, ähnlich wie es Schütz in „Jauchzet dem Herrn“ (SWV 36) macht. Auch die Sequenz „und die Türe in der Welt hoch“ erklingt in der Reprise. 49 Takte dauert die ungekürzte Version allein im ersten Teil und ist damit mehr als doppelt so lang wie die bekannte. Der zweite Part der Motette beginnt mit der Frage „Wer ist derselbige König“ – hier gehen beide Fassungen noch konform. Doch die Gängige verschweigt einen ganzen Passus: Sie endet mit Takt 52 in A-Dur; da hat die Urfassung die Frage aber noch gar nicht beantwortet – im Gegenteil: Bis Takt 110 geht dieser Part nun und beinhaltet weitere Textteile, die in der kurzen Version gar nicht auftauchen: „Es ist der Herr Zebaoth. Er ist der König der Ehren. Sela.“ Auch hier lässt Hammerschmidt die vorangegangene Frage als Echo wiederholen. Das Ende steht in G-Dur.
Der dritte Teil der Motette – „Hosianna in der Höhe“ beginnt auch in der langen Fassung nicht mit einem Paukenschlag, aber mit einem gänzlich verschiedenen Einsatz der Stimmen: Fängt „normalerweise“ der Bass II an, um dann im Folgetakt vom Bass I und dem einstimmigen Tenor flankiert zu werden, sind es hier die doppelt und ab dem zweiten „Hosianna“ in Takt 112 parallel geführten Tenorstimmen, die erst vom Bass, dann vom Alt und schließlich von Sopran I und II begleitet werden! „Hosianna in der Höhe, dem Sohn Davids“ heißt es in der bekannten Version. In 26 Takten absolviert der Chor das Gotteslob, dann ist die Motette bereits zu Ende. In Kamprads-Gesamtausgabe hat der Chor wiederum mehr Text: „Gelobet sey, der da kömmt [wiederum als Echo gedoppelt] im Namen des Herrn“. Erst in Takt 143 – zuvor endet man in D-Dur – beginnt nun die bekannte „Hosianna“-Phrase. Dies beschreibt Jörg Breiding als viel logischer und tatsächlich: Im Vergleich kommt einem die kurze Version mit ihrem unerwarteten Übergang von A-Dur nach G-Dur doch recht rustikal vor. Nun beginnt der „Hosianna“-Part in G-Dur und ohne Modulation, das „Sela“ steht ja bereits in der Tonart des Anfangs.
Ist das „Alte“ nun falsch? Der Kamprad-Verlag wird sogar eine Einzelausgabe dieser Motette auflegen. „Mit der Einspielung dieser Variante und der Notenausgabe wollen wir dieser Musik, die von so vielen Chören gern gesungen und vom Publikum ebenso gern gehört wird, dazu verhelfen, neu entdeckt zu werden“, sagt Jörg Breiding. Im Netz konnte man das Ganze bislang nur als verstecktes Midi-File und somit höchstens als akustische Randnotiz wahrnehmen – die „Neuentdeckung“ mit dem Knabenchor Hannover dürfte hingegen nicht zu überhören sein.
Wenn Sie im Menü links auf den Reiter [Thema] klicken, finden Sie hierzu auch ein Interview mit Prof. Jörg Breiding.