Musik aus dem Moment geboren
SPIESHEIM (20. September 2022). Nach seinem erfolgreichen Start 2019 waren dem jungen rheinhessischen Musikfestival wie allen anderen die pandemischen Fußketten angelegt, die in den vergangenen zwei Jahren nur kleine Schritte erlaubten. Nun melden sich die Internationalen Musiktage Wörrstädter Land zurück und präsentierten in ihrem Eröffnungskonzert gleich eine besondere Delikatesse: Das Dowland project. Wobei der Name nicht etwa daher rührt, dass sich die Musiker um den Sänger John Potter nur mit der Musik des großen englischen Komponisten und Lautenisten beschäftigten: Es geht vielmehr um die auch von ihm seinerzeit gepflegte, ja geforderte Kunst der Improvisation.
Mit John Surman (Sopransaxophon und Bassklarinette), Jacob Heringman (Laute) und Miloš Valent (Violine) hat Potter fulminante Künstler an seiner Seite, um diesen Abend des Dowland project in der wunderbaren Atmosphäre der Spiesheimer Stephanus-Kirche zu gestalten. Kein Konzert gleicht dem anderen – die Musiker lassen sich vom Moment inspirieren und tragen. Der Titel „Renaissance trifft Jazz“ verfehlt den Kern des Konzerts denn auch nur knapp, denn die gespielten Werke entstammen nicht nur dieser einen Epoche und der Jazz ist nicht als solcher zu orten, sondern passt sich der historisch informiert gestalteten Alten Musik bestechend genau an.
Schon der Beginn überrascht: Da spielt der Geiger ein paar Noten, lichte Obertöne und man meint, ein Musiker teste die Qualität eines neuen Instruments oder lote die akustischen Verhältnisse des Raumes aus. Dann, wie aus dem Nichts, gesellen sich die anderen Instrumente und der leise, warme Tenor Potters hinzu. Das Motto lautet offenbar: Alles kann, nichts muss. Und so wird der Verweis auf den Jazz plötzlich verständlicher: Die einst freie Musik wurde, erst durch die Neumen und später dann die moderne Notenschrift, gleichsam eingezäunt, woraus sie sich im Jazz mit seinem Hang zum Stegreif dann wieder befreite. Hier trifft alles aufeinander – in meditativer friedvoller Einheit, die einen sacht auf ihre Flügel nimmt und hinwegträgt.
„Perfekt unperfekt“, raunt ein begeisterter Zuhörer zwischen zwei Stücken. Und tatsächlich: Das besondere dieses Konzerts liegt nicht im virtuosen Spiel, im Sich-Präsentieren des Individuums, sondern in der Interaktion und vor allem einer Haltung der neugierigen Demut, scheinen die Interpreten doch zu fragen: Welche Möglichkeiten schenkt uns diese Musik? Wie kann ich ihnen gerecht werden? Was kann ich tun, um ihr Innerstes zum Leuchten zu bringen? Da singt John Potter beispielsweise Dowlands „Come again, sweet love doth now invite“ erst nur mit Lautenbegleitung, dann übernimmt die Geige die Melodie, das Sopransaxophon spinnt Tongirlanden, die sich auf das eben Gehörte beziehen, es weiterdenken. Und aus dem schlichten Cantus wird ein ganzer Kosmos.
Schließt man die Augen beim Spiel der Bassklarinette, meint man, einen gezupften Kontrabass zu hören, wenn John Surman sacht anstößt. In barocke Passacaglien tropfen seine Töne gleichsam aufs repetierende Spiel der Laute. Und Miloš Valent? Verwandelt seine Violine in eine Ukulele. Perfekt unperfekt? Man könnte auch sagen: Hier erklingt einfach nur Musik – authentisch, echt und vollkommen solitär, weil im Moment entstanden. Manches ist, versichert Jacob Heringman, tatsächlich vollkommen improvisiert. Und so erlebt man diesen Abend in der Spiesheimer Stephanus-Kirche wie eine einzige, große Überraschung – und ein Geschenk.